(LOOKSfilm für NDR/ARTE)
Publikumspreis der Marler Gruppe an
Claire Billet (Buch)
Lucio Mollica (Buch/Producer)
Mayte Carrasco (Buch/Regie)
Marcel Mettelsiefen (Buch/Regie/Kamera)
Erstausstrahlung/-veröffentlichung:
ARTE, Dienstag, 07.04.2020, 20.15 Uhr
Lauflänge: 4 x 52 Min.
Inhalt
Seit mittlerweile mehr als 40 Jahren herrscht in Afghanistan Krieg, dessen verheerende Zerstörungen seither unser Bild des Landes prägen. Der Dokumentarfilm „Afghanistan. Das verwundete Land“ zeigt ausgehend von den 60er-Jahren zunächst das damals gesellschaftlich geteilte Land. Die Hauptstadt Kabul war in der „goldenen Ära“ sehr modern – es gab Modenschauen, Schönheitswettbewerbe und Touristen –, während die Menschen auf dem Land deutlich einfacher und traditioneller lebten. Seltenes Archivmaterial aus den 60er- und 70er-Jahren zeigt ein Afghanistan in einer Phase des Fortschritts und des Friedens, bevor das Land aufgrund der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in einem nicht mehr enden wollenden Krieg versank. Ausschließlich Frauen kommen zu Wort: Zeitzeuginnen wie die aktuelle Staatsministerin für Menschenrechte oder „Miss Afghanistan 1972“ berichten von ihren teils traumatischen Erlebnissen, manche von ihrer Flucht in die Vereinigten Staaten, und vor allem von ihrem Wunsch, ihr Land, wie sie es kennen, zurückzubekommen.
Begründung der Jury
Blicke auf den Hindukusch und andere Landschaften vermitteln den Eindruck eines Landes mit überwältigenden Naturschönheiten. Der Weg „vom Paradies in die Hölle“, den uns diese umfangreiche ARTE-Dokumentation ankündigt, scheint kaum dazu zu passen, wäre Afghanistan nicht seit Jahren ein Synonym für Krieg, Terror und Gewalt, Chaos und Unübersichtlichkeit.
Die Filmemacher*innen Mettelsiefen, Carrasco, Mollica und Billet nehmen uns mit auf einen detailreichen historischen Exkurs, wie die Zuschauer*innen ihn eher selten zu sehen bekommen. Über vier Teile, deren jeder jeweils gut einem Jahrzehnt entspricht, erzählt der Film die Geschichte Afghanistans – auch als ein historisches Lehrstück, ohne dass wir das Gefühl haben, belehrt zu werden.
Beteiligte aus allen Lagern, von einem Mitglied der Königsfamilie und einem CIA-Kontaktmann über russische Offiziere bis zum Mudjahedin-Führer oder Taliban-Minister u.a. mehr, schildern uns ihre Sicht des Geschehens; sie vermitteln einen nachvollziehbaren Eindruck der Konfliktlinien in diesem Land. Das sehr gut ausgesuchte, in großen Teilen nie gesehene Filmmaterial und die Multiperspektivität der journalistischen Sicht der Kriegsreporter aus Westeuropa, Russland oder Syrien ermöglichen uns Zuschauer*innen sehr unterschiedliche Eindrücke von den handelnden Akteuren, die uns auf Augenhöhe begegnen, was vorschnelle Urteile ausschließt und den Betrachter in vielerlei Hinsicht fordert. Besonders überzeugend herausgearbeitet wird die in allen Phasen des Konflikts zum Selbstzweck werdende Rolle der militärischen und dann auch der individuellen Gewalt.
Eine Besonderheit der Dokumentation ist die sehr gut eingearbeitete feministische Perspektive; fast alle Gesprächspartnerinnen sind allerdings der Oberschicht zuzuordnen. Über alle Zeitabschnitte hinweg erleben wir den Blick auf die Entwicklung der Heimat mit, auf das persönliche Leid, aber auch die zwischendurch immer erneut aufkeimende Hoffnung auf eine friedliche Zukunft. Die Bereitschaft dieser Frauen, trotz zahlreicher Enttäuschungen politische Ämter auszufüllen, und ihr wieder und wieder „Aufstehen“ macht ein wenig Hoffnung für die nächste Phase Afghanistans. Wie formuliert Shukria Barakzai: „Ich will mein Land zurück!“ Der Weg vom Abgrund in Richtung Demokratie wird ein steiniger sein – das glauben wir zu wissen.
Selten ist dem interessierten Publikum der verhängnisvolle Zusammenhang der Verstrickung fremder Mächte in innenpolitische Konflikte einer Region klarer in der Bildsprache, spannender im Aufbau und analytischer in den Aussagen vor Augen geführt worden, dabei aber Zurückhaltung übend in der Bewertung.
Wir fühlen uns als mündige Zuschauer*innen ernst genommen!