57. Grimme-Preis 2021

Masel Tov Cocktail

(Filmakademie Baden-Württemberg für SWR/ARTE)

 

Grimme-Preis an

 

Arkadij Khaet (Buch/Regie)

Merle Teresa Kirchhoff (Buch)

Mickey Paatzsch (Regie)

Alexander Wertmann (Darstellung)

 

Erstausstrahlung/-veröffentlichung:
Das Erste, Montag, 05.10.2020, 00.35 Uhr

Lauflänge: 30 Min.

 

Inhalt

Ein Schulklo im Ruhrgebiet: Dimitri Lieberman – genannt Dimi – bricht seinem Mitschüler die Nase, nachdem dieser ihn mit antisemitischen Sprüchen beleidigt hat. Dimitri ist Jude und mit seinen Eltern im Zuge der „Wiedergutmachungen“ Anfang der 2000er aus Russland nach Deutschland gekommen.

Der Nasenbruch hat Folgen für Dimi: eine Woche Schulsuspendierung, gleichzeitig wollen seine Eltern, dass er sich bei seinem Mitschüler entschuldigt. Dimi kann das gar nicht verstehen, er fühlt sich ungerecht behandelt.

In dem 30-minütigen Kurzfilm von Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch begleiten wir nun Dimi bei seinem Weg durch die Stadt, der zu einer „Tour de force“ wird aus Situationen, Klischees und Vorurteilen, denen Menschen jüdischen Glaubens immer noch in Deutschland ausgesetzt sind. Er trifft auf völlig Unwissende genauso wie auf Pseudo-Empathiker, AfD‘ler, Freunde und Verwandte, aber eigentlich auf niemanden, der sich wirklich für ihn und seine Probleme als Dimitri interessiert. Er ist nicht Dimitri, sondern er ist immer erstmal nur Jude. Parallel zu der erzählerischen Linie von Dimitri eröffnen sich immer wieder amplitudenhaft edukative wie auch unterhaltende Erzählexkurse, in denen der Zuschauer viel über seine eigene Geschichte und jüdisches Leben in Deutschland erfährt.

 

Begründung der Jury

Antisemitismus, der mediale Diskurs – das ist ein schmaler Grat, den die Autoren und Regisseure von „Masel Tov Cocktail“ betreten. Aber der Balanceakt gelingt ihnen meisterhaft. Alle Zutaten in diesem Cocktail stimmen: Drehbuch, Kamera, Schnitt und Regie präsentieren mit perfektem Timing starke Bilder und Aussagen, die in sehr kurzer Zeit zeigen, was es heute bedeutet, in Deutschland jüdisch zu sein.

Das alles mit einer Energie und einem Tempo, das den/die Zuschauer*in kaum atmen lässt. Die Filmemacher interessieren sich dabei nicht für Genregrenzen, sondern agieren frei und sind gleichzeitig angenehm distanziert. Mit großer Erzähllust entblößen sie den überaus verkrampften, gleichzeitig unwissenden, aber umfassend verkorksten Umgang mit dieser Thematik auf allen Seiten: Eine Lehrerin, die es nicht schafft, das Wort Jude auch nur zu artikulieren, während Teenager vor einem jüdischen Mahnmal für TikTok twerken.

Einen großen Anteil an der Dynamik und der Wucht, mit der der Film auf den Zuschauer trifft, hat Dimi, gespielt von Alexander Wertmann. Dieser packt uns von der ersten Sekunde – seinen Augen, seiner Präsenz kann man sich nicht entziehen, Wertmanns direkte Zuschaueransprache ist so überzeugend und ungeschönt, dass wir seinen Weg vom ersten Moment an mitgehen. Die beiden Regisseure und Autoren Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch setzen hier das Brechen der vierten Wand als Stilmittel gekonnt ein, spielen konsequent mit verschiedenen Erzählebenen, mischen Fiktion und Realität.

Durch diese multimodale Kommunikation kommt der/die Zuschauer*in nie zur Ruhe, hat keine Chance sich zu entziehen, sondern muss sich ständig neu mit dem Thema auseinandersetzen. Jeder Schnitt bietet eine kleine Überraschung, etwas Neues, immer mit einem Augenzwinkern. Das macht „Masel Tov Cocktail“ so vermeintlich leicht zu schauen. Wissensvermittlung passiert en passant der Erzählung von Dimi – aber nie belehrend.

Das alles unabhängig davon, auf welchem Wissensstand der Rezipient ist, auch Zuschauer*innen mit viel Vorwissen finden Neues. Manchmal subtil, aber auch direkt – zum Beispiel beim Erklären des „Falafelkriegs“ oder beim Parfümkaufen im ehemaligen „arisierten“ Kaufhaus Tietz (heute Kaufhof).

Dieser Film ist so erfrischend anders im Umgang mit Vorurteilen und Klischees über das Leben als Jude in Deutschland. Ein Kunstwerk, das zwischen Verantwortung, Krampf, Schuld und Wiedergutmachung und dem Wunsch nach einer neuen Normalität steht. Es ist einer der originellsten filmischen Cocktails der letzten Jahre, mit echtem Mehrwert und noch weit darüber hinaus. Wir wünschen uns, dass es den Machern von „Masel Tov Cocktail“ gelungen ist, den Blick auf jüdisches Leben in Deutschland zu erweitern.

 
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