59. Grimme-Preis 2023

Neuland

(Odeon Fiction für ZDF)

 

Grimme-Preis an:

Orkun Ertener (Buch/Produktion)

Jens Wischnewski (Regie)

Peri Baumeister (Darstellung)

Franziska Hartmann (Darstellung)

Anneke Kim Sarnau (Darstellung)

Mina Tander (Darstellung)

 

Produktion: Katja Herzog

Erstveröffentlichung: ZDFmediathek, ab Montag, 14. November 2022

Sendelänge: 6 Folgen, je ca. 45 Minuten

 

Inhalt:

Sünnfleth, ein wohlhabendes Örtchen im Umland von Hamburg: Über Nacht ist die alleinerziehende Mutter Alexandra von der Bildfläche verschwunden. Die Freundinnen Marie (Peri Baumeister) und Sarah (Mina Tander), die Kinder in ähnlichem Alter haben, kümmern sich um die Töchter der Vermissten. Als sich die Suche nach Alexandra hinzieht, kehrt deren Schwester Karen (Franziska Hartmann) in die Stadt zurück, um sich um die verwaisten Kinder zu kümmern. Ob sie die Richtige ist, um solch eine Verantwortung zu übernehmen? Karen war zuvor auf einem Bundeswehreinsatz in Mali, leidet unter posttraumatischen Belastungsstörungen und hat ein schweres Alkoholproblem. Doch mit Hilfe von Marie und Sarah findet sich die Berufssoldatin in die engen Sozialstrukturen der Kleinstadt ein. Jeder kennt hier jeden – und alle scheinen miteinander im Clinch zu liegen. Als es in der Schule der Kinder zu Gewaltausbrüchen kommt, wird die neue Freundschaft zwischen den Frauen auf die Probe gestellt: Die machtbewusste Verlegerin Anke (Anneke Kim Sarnau) baut sich als Gegenspielerin zu dem neu zusammengefundenen Trio auf – dabei leidet die so souverän auftretende Medienfrau offensichtlich unter einem gewalttätigen Ehemann.

 

Begründung der Jury:

Die Wohlstandszone als Kampfzone: Mit Eleganz und Einfallsreichtum inszenieren die Schöpfer von „Neuland“ in ihrem fiktiven Örtchen Sünnfleth den Speckgürtel um Hamburg als Spielfläche, auf der sich widerstreitende gesellschaftliche Kräfte Bahn brechen. Im Mittelpunkt stehen vier moderne, selbstbewusste Frauen, die sich immer wieder die Frage stellen müssen, wie weit sie die Emanzipation tatsächlich gebracht hat: Wirklich selbstbestimmte Karrierefrau oder doch nur Trophy Wife mit Alibi-Job? Wirklich solidarische Schwester oder doch nur Einzelkämpferin unter dem Feminismus-Deckmantel?

Drehbuchautor Orkun Ertener zeichnet die Figuren ambivalent bis an die Schmerzgrenze, gleichzeitig führt er sie in einem raffiniert gebauten Plot zu immer neuen Bündnis-, Freundschafts- und Gegnerinnenkonstellationen zusammen. Die vier Hauptdarstellerinnen Franziska Hartmann, Mina Tander, Peri Baumeister und Anneke Kim Sarnau beeindrucken durch ihre fulminanten schauspielerischen Leistungen; In ihrem furiosen, feinnervigen Spiel zeigen sie immer neue verblüffende Facetten. Wer eben noch harmlos erschien, offenbart plötzliche mörderische Wut. Wer in einem Moment wie der Inbegriff einer machtbewussten Selfmade-Frau wirkt, entpuppt sich kurz darauf als Gewaltopfer. Dabei desavouieren die Filmemacher:innen und die Schauspielerinnen niemals ihre Charaktere, sondern feiern sie als vielschichtige Figuren, in denen das Publikum mögliche eigene innere Kämpfe gespiegelt sehen kann. Regisseur Jens Wischnewski beweist dabei ein enormes Gespür für Rhythmus und Detailgenauigkeit: In kurzen Rückblenden zeigt er Verrat und Selbstverrat der Frauen. In den behutsam genau inszenierten Gewaltausbrüchen der Kinder spiegelt sich die unterschwellige bis offene Gewalt unter den Erwachsenen. Wo haben eigentlich all die Angst und all das Misstrauen ihren Ursprung?

„Neuland“ demonstriert auf imposante Weise, wie hochkomplex deutsche Serienerzählungen sein können. Dass bei der Erkundung des norddeutschen Soziotops unverblümt große US-Vorbilder wie der HBO-Hit „Big Little Lies“ zitiert werden, ist dabei kein Zeichen von fehlender Eigenständigkeit. Vielmehr zeugen die Referenzen von einer bewundernswerten Souveränität, die es den „Neuland“-Schöpfer:innen erlaubt, mit dem global zur Verfügung stehenden Serienvokabular authentische, atemberaubende deutsche Kleinstadtgeschichten zu erzählen.

 
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