(Doppelplusultra Filmproduktion/Pink Shadow Films/Greenlit Productions OY für ARTE)
Grimme-Preis an:
Antonia Kilian (Buch/Regie)
Produktion: Frank Müller, Antonia Kilian, Guevara Namer, Merja Ritola
Erstausstrahlung: ARTE, Dienstag, 04. Oktober 2022, 00.05 Uhr
Sendelänge: 91 Minuten
Inhalt:
Hala Mostafa hat eine Entscheidung getroffen. Die junge Frau will ihr Leben dem feministischen Kampf widmen – und wenn es sein muss auch mit Waffengewalt. Keine Ehe, kein Islamischer Staat und auch nicht ihre Familie sollen sie daran hindern. Aufgewachsen in der Stadt Manbidsch, im Norden Syriens, westlich des Euphrats, entkommt Hala einer arrangierten Heirat. Sie geht auf die andere Seite des Flusses, wo sie sich an einer Militärakademie ausbilden lässt und die Ideale der kurdischen Frauenbewegung von Rojava verinnerlicht. Nach bestandener Prüfung und der Rückkehr nach Manbidsch beginnt sie den Dienst in einer Polizeistation, in der sie zusammen mit ihrer Schwester Sosan einige Zeit lebt. Dort setzt sie sich dafür ein, andere Frauen vor Gewalt zu schützen, und übernimmt innerhalb kürzester Zeit immer mehr Verantwortung. Für ihren Vater gilt Hala als „Schande“, er droht ihr sogar mit einer „Kugel“. Ihre Mutter fordert sie immer wieder auf, die Polizei zu verlassen. Doch Hala folgt ihrer Überzeugung. Ihr Ziel ist es, ihre jüngeren Schwestern vom patriarchalen Elternhaus zu befreien, um ihnen ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Autorin, Regisseurin und Bildgestalterin Antonia Kilian begleitet Hala mehr als ein Jahr und zeichnet das Porträt einer im wahrsten Sinne militanten Feministin.
Begründung der Jury:
„Ich werde für Gerechtigkeit sorgen“, sagt Polizeischülerin Hala Mostafa. Als sie und Filmemacherin Antonia Kilian sich an der Militärakademie in Rojava kennen lernen, ist Hala gerade einmal 20 – und sie wirkt doch so viel älter. Hala hat den syrischen Bürgerkrieg erlebt, die Besatzung ihrer Heimatstadt durch den IS, die Steinigung von Frauen, den Versuch ihres Vaters, sie gegen Geld zu verheiraten. Ihr Feind ist das Patriarchat – und man ist von Anfang an überwältigt davon, wie entschlossen und kraftvoll diese junge Frau ihren Kampf führt.
Antonia Kilian nimmt uns in ihrem Regiedebüt „The Other Side of the River“ mit in ein Land, das längst wieder aus unseren Nachrichten verschwunden ist. Emphatisch, aber nicht unkritisch geht die Filmemacherin der Frage nach: Was bedeutet das Versprechen einer feministischen Revolution im Alltag? Wie leben Frauen in dieser Gesellschaft heute? Und obwohl sie sich dabei auf die persönliche Geschichte von Hala fokussiert, schafft Kilian es, diese Frage zu beantworten.
Der 90-minütige Dokumentarfilm zeigt die Zerrissenheit seiner Protagonistin, die sich einerseits von ihrem Elternhaus, vor allem ihrem Vater, distanzieren und emanzipieren will, die sich damit andererseits aber schwer tut: Denn dort sind ja noch die neun Schwestern, für die sie sich verantwortlich fühlt und die sie um jeden Preis von patriarchaler Unterdrückung befreien will.
Antonia Kilians Film ist Ergebnis von neugieriger Offenheit und viel Zeit. Mehr als ein Jahr hat sie in Nordsyrien gelebt und Hala Mostafa begleitet. Bemerkenswert nicht nur, weil in dem vom Krieg gezeichneten Gebiet die Sicherheitslage nicht stabil ist, sondern auch, weil der Strom dort immer wieder ausfällt. Eine Herausforderung, wenn man als Filmemacherin Akkus laden will, Licht benötigt oder Daten nach Deutschland schicken muss. Doch Antonia Kilian bleibt beharrlich und schafft es durch ihre kontinuierliche Anwesenheit authentische Szenen einzufangen und das Vertrauen ihrer Protagonistin zu gewinnen.
Kilians ruhige, beobachtende Kamera zeigt uns Bilder, die wir so noch nicht gesehen haben: seien es die Waffenausbildung und feministischen Seminare an der Akademie in Rojava oder die nächtliche Polizeiaktion einer Truppe junger Frauen in Manbidsch. Junge Frauen, die bis vor kurzem nur vollverschleiert auf die Straße durften und jetzt in militärgrüner Uniform an die Tür mutmaßlicher Gewalttäter klopfen, um sie festzunehmen. Besonders eindrucksvoll erzählt Kilian auch die Geschichte der beiden Schwestern, Hala und Sosan, die im Laufe des Films einen Bruch erlebt.
Ein reduzierter und reflektierter Kommentar der Filmemacherin, die aus ihrer Perspektive die Geschehnisse einordnet, macht die ohnehin schon klare Dramaturgie des Films noch verständlicher. „The Other Side of the River“ ist ein gelungenes Porträt einer Frau, die changiert zwischen feministischer Kraft, Wut und Verzweiflung. Denn so radikal der Wille zur Veränderung, zur Gleichberechtigung der Frau in Teilen dieser Gesellschaft ist, so mächtig scheinen die Kräfte, die das verhindern wollen. Ein Film, der uns ermahnt, diese Region deshalb nicht aus den Augen zu lassen.