(Goldstoff Filme/Outside The Club/Filmwerkstatt Münster für WDR/ZDF/ARTE)
Grimme-Preis Spezial an:
Mark Lorei (Idee/Regie)
Charlotte Krafft (Buch)
Cécil Joyce Röski (Buch)
Lotte Ruf (Produktion)
Milena Straube (Darstellung)
für die experimentierfreudige Verknüpfung von Historie, Pop und Politik.
Produktion: Lotte Ruf, Mark Lorei (Goldstoff Filme); Tobias "Tui" Lohf, Marc Schießer (Outside the Club); Daniel Huhn (Filmwerkstatt Münster)
Erstveröffentlichung: ARTE Mediathek, Mittwoch, 6. Juli 2023
Sendelänge: 6 Folgen, je 20-25 Minuten
Inhalt:
Die ungestüme Luise von Kummerveldt führt das behütete Leben einer jungen Adeligen im Deutschen Kaiserreich – mit ihrem Vater, einer Hausdame und dem eigenwilligen Diener Hermann-Josef. Im Schutz der allgemeinen Langeweile auf dem Wasserschloss hat sie sich einen exaltierten Lifestyle zugelegt. Denn Luise will Schriftstellerin sein, und dazu gehört nächtelanges Arbeiten unter Missachtung von Körperhygiene, das Einnehmen von Substanzen oder das Horten gammelnder Äpfel wie Schiller. Sollte über ihre Haltung zum Leben noch Zweifel bestehen, räumt sie der Punk-Pop-Soundtrack aus.
Alles ändert sich, als ihr Vater stirbt und Luises fieser Bruder Veit als neuer Vormund einzieht. Veit ist kaisertreu, nicht ganz selbstsicher und Luise intellektuell massiv unterlegen, will aber nach den gesellschaftlichen Regeln über sie bestimmen. Er schleppt auch einen Bräutigam für sie an, sie springt vor Abscheu direkt aus dem Fenster in den Schlossgraben.
Der Konflikt wird immer böser – Luise fordert Veit zum Duell, er stiehlt die Urheberschaft an ihrem Roman. Diese zwei bekriegen sich aus einer innigen Nähe heraus. Die hat mit Schuld zu tun und mit dem Tod von Ida, dem dritten Geschwisterkind, das gern als Geist bei Luise herumhockt. Und mit dem Geheimnis um das, was Luise und Veit ein „Manöver“ nennen.
Begründung der Jury:
Mitten in einem Historien-Pop-Trend, der von Prunk-Unterhaltung à la Bridgerton geprägt ist, fordert die Low-Budget-Produktion „Haus Kummerveldt“ ihre Zuschauenden heraus. Natürlich, auch hier geht es um das amüsante Transponieren der Vergangenheit ins Heute, um den Verblüffungseffekt, wenn moderne Codes des Erzählens die Distanz zu früher scheinbar aufheben. Und das tut die junge Crew von „Kummerveldt“ in der handlichen Serienkurzform mit größter Freude am Experiment und maximaler Phantasie; der Spaß reicht sogar noch für eine Verlängerung mit „Bonusmaterial“ auf dem eigenen Instagram-Account. Punk statt Prunk! Aber Haus Kummerveldt und seinen Hauptdarsteller*innen – Milena Straube als Luise, Marcel Becker-Neu als ihr Bruder Veit und Fabian Nolte als Diener Herrmann-Josef – geht es schon noch ganz im Ernst um mehr.
Viel näher nämlich als einem Kostümdrama ist Kummerveldt der Dekonstruktion des Kostümdramas – eine seltsame Gestelztheit in den Dialogen, eine Attitüde des Uneigentlichen, die bei allem Ungestüm eine gewisse Irritation wie ein Ausrufezeichen setzt: Das hier ist nicht leicht zu konsumieren, Leute, ihr müsst schon zuhören.
Worum also geht es wirklich? Natürlich ganz offensichtlich um die sehr entschlossene Selbstbehauptung einer jungen Frau gegen ihre patriarchalische Umgebung. Um ihren Kampf um eine selbstbestimmte Lebensform und Anerkennung als Schriftstellerin – die Macher*innen führen Annette von Droste-Hülshoff, Luise Büchner, Else Lasker-Schüler und Mary Shelley als Inspirationsquellen an. Frauen, die schreiben, sind gefährlich: Wenn man schwimmen kann, warum nicht mit einem beherzten Sprung in den Schlossgraben zeigen, was man vom Antrag des Bräutigams hält? Und wenn man gut zielen kann, warum nicht den Bruder zum Duell fordern und anschießen? Apropos Bruder: Die durchaus blutige Rivalität der Systeme – Veits Männermachtanspruch im Namen des Kaisers und Luises Revolutionsleidenschaft – entpuppt sich als Nahkampf zweier Geschwister, die es schon einmal viel zu weit getrieben haben mit einem „Manöver“. Heute würde man natürlich „Challenge“ sagen statt Manöver.
Mindestens genauso entschieden aber spielt „Haus Kummerveldt“ mitten in der münsterländischen Adelsöde die sehr gegenwärtigen Themen Klassismus und Kapitalismuskritik durch. Schließlich liest Luise nicht nur Marx und sucht sich unstandesgemäße Verbündete – die geschickte Magd Karla, den wundervoll würdevollen Hermann-Josef: weil ja unter den Standesgemäßen nur Trottel zu haben wären. Nein, Luise schreibt sogar einen Roman über das Leben von Karla. Ist das schon kulturelle Aneignung? Ständig bleibt man mitten in der temporeichen Inszenierung irgendwie an solchen Gedankenhaken hängen. Unterfordert jedenfalls wird man bei diesem höchst zeitgemäßen Historienspaß nicht – das ist mehr als vorbildlich, es ist eine Freude.