60. Grimme-Preis 2024

Sam – Ein Sachse

(Big Window Productions/Panthertainment für Disney+)

 

Grimme-Preis an:

Tyron Ricketts (Creator)

Jörg Winger (Creator)

Christoph Silber (Creator)

Soleen Yusef (Regie)

Sarah Blaßkiewitz (Regie)

Malick Bauer (Darstellung)

 

Produktion: Jörg Winger, Sebastian Werninger, Tyron Ricketts

Erstveröffentlichung: Disney+, Mittwoch, 26. April 2023

Sendelänge: 7 Folgen, je ca. 45-60 Minuten

 

Inhalt:

Dresden vor der Wende: Samuel Meffire (Malick Bauer), Sohn eines Kameruners und einer Ostdeutschen, entschließt sich dazu, eine Karriere bei der Volkspolizei anzustreben. Sam ist der erste und einzige Schwarze unter den Beamten. Nach der Wiedervereinigung wird der afrodeutsche Polizist das Gesicht einer Imagekampagne, mit der die Landesregierung für ein weltoffenes Sachsen wirbt. Es ist die Zeit, in der Neonazis Jagd auf Migrant*innen machen. Auch Sam wird immer wieder Opfer von offen gewalttätigem, aber auch von verdecktem Rassismus. In einer Gruppe Schwarzer Türsteher findet er, dessen Vater am Tag seiner Geburt starb und dessen Mutter alkoholkrank ist, eine Art Zuhause. Seine Truppe (Creator Tyron Ricketts verkörpert einen davon) schützt Diskotheken und Konzertklubs in der ganzen Stadt. Doch im ruhelosen Sam erwacht bald auch ein krimineller Instinkt – im Auftrag eines Schwarzen Mafioso überfällt er mit seinen Leuten ein Bordell und begeht andere schwere Straftaten. Sein eigenes Kind vernachlässigt er, im Kongo sucht er nach den Spuren des Vaters. Als er in Deutschland in Haft muss, stellt er sich endlich seiner komplexen Identität: Deutsch, Schwarz, vaterlos.

 

Begründung der Jury:

Wende-Drama, Familienpsychogramm, Rassismusstudie, Gangsterthriller – mit atemberaubender Geschmeidigkeit wechselt „Sam – Ein Sachse“ das Genre. Und mit ebenso atemberaubender Geschmeidigkeit fügt sich Hauptdarsteller Malick Bauer in dieses Spiel mit den Genres und Gefühlen. Seine Figur des Samuel Meffire ist, so wie er sie bildschirmsprengend verkörpert, Held und Antiheld, Opfer und Rächer, verletzte Seele und frei drehender Gewalttäter. Jede einzelne Facette, die Malick Bauer von seinem Charakter offenlegt, hat die Jury umgehauen.

Die Wendejahre wurden im deutschen Fernsehen in Serien und Eventmehrteilern ja rauf und runter erzählt. Doch so extensiv diese Zeit auch nachgezeichnet wurde – ein Thema hat man in den meisten Produktionen ausgespart: den massiven Rassismus, der während der sogenannten Baseballschlägerjahre in den neuen Bundesländern geherrscht hat. Die Serie füllt nun diese Leerstelle aus – und sie tut das konsequent aus der Perspektive derjenigen, gegen die diese Gewalt gerichtet war: People of Colour.

Zwei Jahrzehnte arbeitete Tyron Ricketts an dem Projekt, sehr früh an der Seite von Jörg Winger, später kam als Drehbuchautor Christoph Silber hinzu. Wenn sich eine Produktion zieht, heißt das im Fernsehgeschäft oft, dass radikale Ideen verwässern, dass zu viele Bedenkenträger zum Zuge kommen, dass die Story ihren Punch verliert. Bei „Sam – Ein Sachse“ war das Gegenteil der Fall: Die Serie besticht durch einen Reichtum an Ideen, die Figurenzeichnung ist denkbar radikal, und die Erzählung strebt über weite Strecken mit der Energie eines Hip-Hop-Tracks nach vorne.

Das ist auch dem kühnen Inszenierungsstil der beiden Regisseurinnen Soleen Yusef und Sarah Blaßkiewitz zu verdanken. Im kunstvoll eskalierten Strudel des Gewaltdramas schaffen sie immer wieder stille Räume, um vom Schicksal einer unbehausten Seele zu erzählen.

Die Serie ist um das wahre, sehr unwahrscheinliche Leben des Samuel Njankouo Meffire gebaut. Doch „Sam – Ein Sachse“ ist deshalb kein Biopic, das beflissen die Wegmarken dieses spektakulären Lebens absprintet. Den Serienschöpfern und ihrem sensationellen Ensemble gelingt es mithilfe der Streamingplattform Disney+, auf ganz unterschiedliche Weise von Unterdrückung, Zugehörigkeit und Selbstermächtigung zu berichten. Die Jury verbeugt sich: Mit „Sam – Ein Sachse“ wurde etwas geschaffen, das bislang trotz aller vollmundigen Diversitätsversprechen keine hiesige Fernsehredaktion zustande gebracht hat – die erste große afrodeutsche Serie, die schon so lange überfällig war.

 
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