61. Grimme-Preis 2025

Deutschland am Limit? Abschiebung, Abschottung, Asyl

(WDR)

 

Grimme-Preis an:

Isabel Schayani (Buch/Regie)

Mareike Wilms (Buch/Regie)

 

Erstausstrahlung: WDR, Donnerstag, 6. Juni 2024, 23.05 Uhr

Sendelänge: 44 Minuten

 

Inhalt:

Während die Debatte zu neuen, härteren Wegen in der deutschen Migrationspolitik die Gesellschaft immer mehr aufheizt, begeben sich die Journalistinnen Isabel Schayani und Mareike Wilms auf Spurensuche und ermitteln zur Frage: „Ist Deutschland am Limit?“ Sie besuchen Kommunen, reisen an die bulgarische Grenze, nach Istanbul, nach Nairobi zu Verhandlungen eines besonderen Sonderbeauftragten oder an den Flughafen Düsseldorf, wo ein eigenes Terminal für Rückführungen betrieben wird, und nehmen verdeckt Kontakt mit Schleppern auf. Sie sprechen mit Mitarbeiter*innen in Ausländerbehörden, aufgeregten Bürger*innen, Geflüchteten, Gestrandeten und Asylsuchenden, Polizisten und Ermittlern sowie hochrangig Verantwortlichen für Europas Umgang mit den weltweiten Flüchtlingsströmen. Erkenntnisse in der Migrationsforschung und klare Fakten ermöglichen Einordnung. Mehr und schneller abschieben, mehr und stärkere Grenzkontrollen an europäischen und deutschen Grenzen, strengere Prüfungen der Asylanträge – denn alle Kommunen sind am Limit! Ist das wirklich so? Und ist überhaupt realistisch, was Politik fordert? Die Antworten sind klugen und vielschichtigen Fragen geschuldet. Denn, das arbeitet diese Reportage vorbildlich heraus, am Ende verhandeln wir die Werte von Demokratie und Menschenrechten.

 

Begründung:

„Es ist kompliziert“ – lautet das lapidar anmutende Fazit dieser herausragend aufbereiteten „ARD-Story“.

In der deutschen Öffentlichkeit verging in den vergangenen Monaten kaum ein Tag, an dem nicht in Brennpunkten, Talkshows und Reden die üblichen Forderungen zu einer Wende in der Asylpolitik gestellt werden. Es ist Wahlkampf. Isabel Schayani und Mareike Wilms zeigen uns ein differenzierteres Bild. Fehlendes Personal in allen Bereichen, langes, mühsames Ermitteln gegen die schwer zu fassenden Schleppernetzwerke, durchaus vorhandene Kapazitäten in mittleren und kleineren Kommunen und Gemeinden, wie 70% der befragten deutschen Kommunen angaben, belegen: Einfachen Lösungen ist zu misstrauen. Isabel Schayani agiert mit lebendiger Präsenz.  Auch damit gelingt es trotz strenger Formatierung in 45 Minuten präzise zu fragen und einzuordnen – engagiert nüchtern, ohne aktivistische Erregung, empathisch, ohne sich anzubiedern, und deshalb auch so besonders: ein starkes Stück aktueller Reportage.

Die Jury lobt die sehr gut dargelegten Gegennarrative zu den täglichen Medienberichten. Der Verzicht auf jede zusätzliche Dramatisierung zugunsten einer klaren Faktenlage spricht für diese valide journalistische Arbeit. Wir sind bei Kontrollen von LKWs an Autobahnen dabei, erleben bei einem Einsatz die gelungene Zusammenarbeit der Polizei in Deutschland und Polen. Ein Arzt erläutert die medizinischen Vorgaben für Rückführungen. Es gilt überall gesetzliche Wege zu gehen. Geflüchtete Familien berichten von ihren bedrückenden Erfahrungen. In einer Flüchtlingsunterkunft sind die Ressourcen erschöpft. Ein Bürgermeister hat noch Kapazität in einer Stadt, die nach der Wende einen großen Teil der Bevölkerung verlor. Die Infrastruktur kommt hier und da aus gegensätzlichen Lagen zum Erliegen. Die Interviews sind durchweg klar geführt und hoch informativ, die Interviewpartner*innen kompetent gewählt. Das ist Aufklärung und Bildung im besten Sinne.

Die beiden Journalistinnen machen deutlich, dass das Zuhören das Verstehen stärkt, und das Verstehen das Wissen um die Mechanismen. „Verschärfte Grenzkontrollen kurbeln das Geschäft der Schlepper an“, so die Migrationswissenschaftlerin. „Wir müssen ganz geduldig dicke Bretter bohren“, sagt der Exekutivdirektor von Frontex. „Das ist ein kriminelles Reisebüro. Und wir wollen an den Reiseleiter“, hofft der Bundespolizist. „Auch kleine Fische zu fangen ist wichtig. Es destabilisiert ihr System und ihre Netzwerke“, heißt es von Europol. Alle Gesprächspartner*innen können ihre Position darlegen und wir erhalten ein umfassendes Bild ohne vorgefasste Meinung. So geht vorbildliches Fernsehen. Dass der Film dabei keine Hoffnungslosigkeit erzeugt, ist eine große Stärke und stützt das Entlarvende. „Wir haben kein Problem mit der Migration, sondern ein Problem im Umgang mit dem Thema“, antwortet der Oberbürgermeister von Zittau. Es bleibt kompliziert.

 
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