61. Grimme-Preis 2025

Einhundertvier

(Jonathan Schörnig & Adrian Then)

 

Grimme-Preis an:

Jonathan Schörnig (Regie/Bildgestaltung)

Johannes Filous (Bildgestaltung)

 

Erstveröffentlichung: ARD Mediathek, Montag, 28. Oktober 2024

Sendelänge: 93 Minuten

 

Inhalt:

Dieser Film schaut hin. Eingehend: In dem Augenblick, als das Rettungsschiff Eleonore im Mittelmeer ein Schlauchboot mit Menschen sichtet, entsendet es ein kleines Rettungsboot – und multiple Kameraperspektiven werden aktiv. Zwei davon befinden sich an Helmen von Besatzungsmitgliedern, zwei sind fest installiert, zwei flexibel. Mithilfe eines sechsteiligen Splitscreens zeigt der Dokumentarfilm eine Seenotrettung in Echtzeit. Zunächst muss die Besatzung des vom Schiff entsendeten Rettungsboots die Geflüchteten auf dem überfüllten Gummiboot beruhigen, sie zählen und einen Plan erstellen, um sie möglichst schnell aus der Situation zu befreien. Man kommuniziert mit Händen und Füßen, die Geflüchteten, 104 Männer, sind verängstigt und erschöpft, doch der Crew des Rettungsschiffs gelingt es, sie langsam, zunächst Mann für Mann, dann Gruppe für Gruppe an Bord des Schiffs zu transportieren. Die Odyssee der Männer ist damit nicht zu Ende. Denn die Eleonore wird an einigen Häfen abgewiesen, bedrohlich nähert sich zudem eine Patrouille der libyschen Küstenwache – und ein Sturm lässt das Schiff schwanken. Sechs Tage nach der Seenotrettung erbarmt sich ein italienischer Hafen. Die 104 Menschen haben es geschafft, sie sind nicht ertrunken. Aber ist das ein glückliches Ende ihrer Reise?

 

Begründung:

Im Jahr 2024 starben oder verschwanden 2600 Menschen im Mittelmeer. Sie hatten versucht, über das Gewässer in eine sichere oder zumindest sicherere Zukunft zu flüchten. Johannes Schörnigs Film enthält sich jedes Kommentars, in den ersten 85 der 90 Minuten entdeckt stattdessen das Publikum in Echtzeit selbst, was bei der späteren Berichterstattung oft übergangen wird: wie gefährlich jede einzelne dieser Rettungsaktionen ist. Der Film zeigt damit eindringlich, wie verzweifelt jemand sein muss, um eine solche lebensgefährliche Flucht auf sich zu nehmen – und wie ignorant und unmenschlich Europas Staaten sind, die Menschen in Todesgefahr die Hilfe verweigern.

Behutsam lässt Schörning seine Protagonist*innen sich durch deren Handlungen selbst vorstellen: Die Frau, die im Bug des Rettungsbootes den ersten Kontakt zu den Geflüchteten herstellt und bei jeder erneuten minutenlangen Fahrt über das Wasser zurück zum Schlauchboot mehr über die Feinheiten im Umgang lernt – dass man nicht schreien darf, dass man die Passagiere dazu bringen muss, die Westen anzulegen und sich gut festzuhalten, dass man ihre Angst antizipieren muss. Den Kapitän, der auf der Brücke ausharrt, gleichzeitig ein Schiff steuern, aber auch die Rettungswesten und das An-Bord-Holen organisieren muss. Einen der Geflüchteten, der als wichtiger Kommunikator zwischen den Geflüchteten und der Crew agiert und beim Transfer zum Schiff hilft.

Durch seine gleichmäßige, schnörkel- und kommentarlose Konzentration auf jede einzelne Sekunde, in der die 104 Leben gerettet werden, schafft es Schörnig, ebenso den Mut der beteiligten Crew wie die Verzweiflung der Geflüchteten, die Relevanz dieser Rettungsaktionen wie die unfassbare Ungerechtigkeit hinter ihrer scheinbaren Notwendigkeit zu verdeutlichen: Wieso müssen sich Menschen in solche Gefahren begeben, wenn sie in ein anderes Land auswandern wollen? Wieso müssen sie ihr Leben, das oft bereits zuhause bedroht wurde, schon beim Weg in ein neues, vermeintlich besseres aufs Spiel setzen? Wie groß muss ihre Hoffnung sein, dass sie das alles in Kauf nehmen?

Die Jury schaute den Film mit Respekt und Fassungslosigkeit – auch wenn wir immer wieder von missglückten, knapp geglückten oder durch das Verhalten von europäischen Grenzpolizist*innen oder der libyschen Küstenwache gefährdeten Aktionen hören und lesen, sehen wir sie selten in diesem Umfang, in dieser Direktheit und mit dieser Wucht. Dabei spiegelt der Splitscreen mit den festinstallierten Kameras subtil das Multiperspektivische auf der politischen Ebene – es kommt eben immer drauf an, wo man selbst an Bord gehen darf und muss: auf das marode, überfüllte Gummiboot mit einer ungewissen Zukunft, schlimmstenfalls dem Tod vor Augen. Oder auf das sichere Schiff auf seinem Weg in einen Hafen.

 
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