(Pink Shadow Films für ZDF/ZDF – Das kleine Fernsehspiel)
Grimme-Preis an:
Bahar Bektaş (Buch/Regie)
Antonia Kilian (Bildgestaltung)
Meret Madörin (Bildgestaltung)
Tobias Carlsberg (Buch)
Arash Asadi (Buch)
Erstausstrahlung: ZDF, Montag, 25. November 2024, 23.50 Uhr
Sendelänge: 98 Minuten
Inhalt:
Bahar Bektaş‘ Bruder Taner ist in einem deutschen Gefängnis inhaftiert, warum er verurteilt wurde, bleibt offen. Der 40-Jährige steht kurz vor der selbstgewählten Abschiebung in die Türkei. Bektaş nutzt die Zeit des Wartens, um mit der Kamera festzuhalten, wie die Familienangehörigen mit dieser Situation umgehen. In Gesprächen mit ihren Eltern Yildiz und Mustafa sowie ihrem jüngeren Bruder Onur und dem älteren Bruder Taner begibt sie sich auf eine Reise in die Vergangenheit: Politische Verfolgung der alevitisch-kurdischen Familie in der Türkei, die Flucht nach Deutschland 1989, rassistische Übergriffe, Depressionen und Überforderung der Eltern – all das hat das Leben aller Familienmitglieder nachhaltig beeinflusst, aber alle gehen unterschiedlich, auf ihre ganz individuelle Weise, mit diesen Erfahrungen um. Bahar Bektaş‘ reist mit ihrem Vater in die Türkei, wo er alles für die Ankunft des Sohnes vorbereitet und wochenlang vergeblich auf ihn wartet. Sie führt lange Gespräche mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder und reist auch mit ihnen später noch einmal in die Türkei. Sie thematisiert die eigene Zerrissenheit und Vermittlerinnenrolle und zeichnet so ein vielschichtiges Portrait ihrer Familie.
Begründung:
Was ist Heimat? Auf diese Frage gibt es viele Antworten, aber sie alle haben wohl gemeinsam, dass Heimat ein Ort ist, an dem man sich nicht erklären muss, an dem man nicht hinterfragt wird, an dem man, ohne etwas leisten zu müssen, dazugehört. Für die Familie der Filmemacherin Bahar Bektaş gibt es diesen Ort nicht. In der Türkei wurden die Eltern verfolgt und diskriminiert, weil sie Kurd*innen sind, in Deutschland wird ihnen seit mehr als 35 Jahren immer wieder deutlich gemacht, dass sie höchstens geduldet sind. Nun sitzt Bahars Bruder Taner im Gefängnis und soll bald in die Türkei abgeschoben werden. Das reißt bei allen Familienmitgliedern alte Wunden auf.
In ihrem Dokumentarfilm „Exile Never Ends“ erzählt Bektaş in ruhigen, sorgfältig komponierten Bildern (Bildgestaltung: Antonia Kilian und Meret Madörin) und mit großem Feingefühl von den Auswirkungen der Migration und den langfristigen Folgen der Entwurzelung. Die Verfolgung in der Türkei und die Rassismus-Erfahrungen in Deutschland haben die Eltern traumatisiert und auch das Leben der drei Kinder nachhaltig geprägt.
Der Grund für Taners Inhaftierung wird nicht genannt. Das mag anfangs irritieren, doch verhindert diese Leerstelle eine reflexhafte Einordnung des älteren Bruders in eine Schublade. Stattdessen müssen sich die Zuschauer*innen mit ihren eigenen Ressentiments auseinandersetzen. Vor allem zeigt der Film eindrücklich auf, wie sehr strukturelle Benachteiligung Menschen an den Rand der Gesellschaft drängt und sie so der Chance auf eine echte Teilhabe beraubt. „Sein größtes Problem war, dass er sich minderwertig fühlte. Er wollte reich sein. Er mochte nicht, was er war“, sagt der Vater über den Sohn.
Die langen Landschaftsaufnahmen sind für die Zuschauer*innen oft zunächst nur schwer zu verorten, es entsteht ein Gefühl der Unsicherheit. Ist das nun Deutschland oder die Türkei? Man weiß manchmal nicht, wo man sich gerade befindet, man fühlt sich verloren, kann sich nicht orientieren – und erhält dadurch auch auf dieser nonverbalen Ebene einen erhellenden Einblick in das Gefühl der doppelten Heimatlosigkeit, das für diese Familie Alltag ist.
Obwohl Bektaş eine sehr persönliche Familiengeschichte erzählt und die großen gesellschaftlichen Fragen eher unterschwellig behandelt, ist dieser Film durch und durch politisch relevant, weil er zeigt, wie einseitig die Migrationsdebatte in Deutschland geführt wird und wie sehr sie die überwältigende Mehrheit der Migrant*innen, die sich integrieren und Deutschland mitgestalten möchten, dadurch einmal mehr ausgrenzt und traumatisiert.
„Exile Never Ends“ ist aber auch ein Denkmal für die vielen Migrant*innen, die es mutig auf sich nahmen und nehmen, in ein anderes, ein fremdes Land zu gehen, um sich selbst und ihren Kindern die Chance auf eine bessere Zukunft zu geben.