(cocktailfilms/Kollektiv Zwo für ZDF/ZDF – Das kleine Fernsehspiel)
Grimme-Preis an:
Bilal Bahadır (Buch/Regie)
Çağdaş Eren Yüksel (Produktion)
Erstveröffentlichung: ZDFmediathek, Samstag, 23. November 2024
Sendelänge: 6 x 15 - 34 Minuten
Inhalt:
Die Gewalttaten und Kriegshandlungen finden oft in fern scheinenden Gegenden statt – haben aber erhebliche Auswirkungen auf die jungen Migrant*innen, die im Zentrum dieser Serie stehen: Nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York zieht in Deutschland eine Lehrerin, die Kopftuch trägt, die Ressentiments eines Teils des Kollegiums auf sich. Nach dem Attentat auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ in Paris gerät ein Kunststudent zwischen die Fronten von muslimischen Kumpels und islamkritischen Künstlern seiner Hochschule. Nach den Anschlägen von Hanau wird eine Gruppe amüsierwilliger Jugendlicher in Köln vom Besuch einer Shisha-Bar abgehalten – und zwar von genau jenen Security-Leuten, die doch für ihre Sicherheit sorgen sollen. Und nach den Stuttgarter Krawallnächten gerät eine Deutsch-Türkin mit ihrem Bruder in eine Polizeikontrolle – und sie ist sowieso schon spät dran für ein wichtiges Vorstellungsgespräch. Eine deutsche Frau macht derweil in einer Geflüchteten-Unterkunft eine ganz andere Erfahrung: Sie hatte sich kurz nach dem Angriffskrieg Putins auf die Ukraine darum beworben, eine ukrainische Geflüchtete aufzunehmen, soll jetzt aber einen Mann aus Syrien beherbergen. Ist sie unsolidarisch, wenn sie das ablehnt?
Begründung:
Die Terrorattacke von 9/11 2001, das islamistische Massaker in der Redaktion von „Charlie Hebdo“ 2015, die rassistischen Morde in Hanau 2020: Die meisten dieser Gewalttaten haben an anderen Orten stattgefunden – und doch werfen sie lange schwere Schatten auf die Figuren in dieser Serie. In bislang unerreicht komprimierter Form zeigt „Uncivilized“, wie das entfesselte Grauen dieser historischen Ereignisse nicht nur den Lauf der Welt verändert hat, sondern wie es sich, kaum wahrnehmbar, in kleinen, aber nachhaltigen Impulsen in das Leben von jungen Deutschen mit türkischer oder arabischer Herkunft einschreibt.
Über viele Jahre haben Bilal Bahadır und Çağdaş Eren Yüksel an ihrem Projekt gearbeitet. Beachtlich, wie sie in diesem langen, aufreibenden Prozess den genauen Blick verfestigen konnten. Leichthändig, fast beiläufig und doch unbestechlich nehmen die beiden Serienschöpfer Situationen ins Visier, in denen das Gift des stillen Ressentiments und des latenten Rassismus sich grausam ausbreiten darf.
Dabei kommt „Uncivilized“ in keinem Moment didaktisch oder angestrengt daher. Mit Witz und Vitalität werden hier die Mikroaggressionen offengelegt, denen junge Menschen mit muslimischem Hintergrund in Deutschland ausgesetzt sind. Dabei machen Bilal Bahadır und Çağdaş Eren Yüksel nicht den Fehler, ihre Figuren als „Vorzeigemigranten“ in Szene zu setzen, sondern sie präsentieren sie als das, was junge Leute eben meist sind und sein sollen: experimentierfreudig und lebenshungrig, bockig und vorlaut.
Dass der Balanceakt aufgeht, liegt auch an dem Elan der jungen Besetzung. Mit atemberaubender Präsenz nimmt sie die Spielorte in Beschlag – um dann in leisen Momenten den Schmerz über die subtilen Ausschlussverfahren aus der deutschen Gesellschaft darzustellen. In den fünf Folgen mit Spielhandlung kann man sich dem Glück hingeben, eine ganz neue Generation von Schauspieler*innen mit migrantischem Hintergrund heranwachsen zu sehen. So ein Glücksgefühl hatte man möglicherweise das letzte Mal 1998, als Fatih Akin in „Kurz und schmerzlos“ ein diverses Ensemble mit türkischen, griechischen und serbischen Wurzeln an den Start schickte.
Ein Cameo-Auftritt von „Kurz und schmerzlos“-Star Mehmet Kurtulus verstärkt diesen Eindruck noch – und erinnert uns daran: Leider hat sich seit 1998 nicht so viel verändert. Immer noch sind es viel zu wenige aus der Community heraus erzählte Geschichten über junge Migrant*innen in Deutschland im deutschen Fernsehen, wie sie „Uncivilized“ bietet.
Die sechste, angehängte, dokumentarische Folge, in der Migrant*innen über Ausgrenzungserfahrungen berichten, hätte es nach Meinung der Jury nicht gebraucht: Wieso noch einmal analytisch aufschlüsseln, was sich in dem feinnervigen und funkenschlagenden Spiel doch so fulminant von selbst erklärt?