Adolf-Grimme-Preis an
Johann Feindt und Tamara Trampe (Buch/Regie)
Stab
Produktion: zero one film, Thomas Kufus
Redaktion: Anne Even (ZDF/ARTE)
Buch/Regie: Johann Feindt und Tamara Trampe
Kamera: Johann Feindt
Montage: Stephan Krumbiegel
Produktion: zero film
Redaktion: Ulle Schröder
Erstausstrahlung: Montag, 15.5.2006, 22.25 h (ARTE)
Sendelänge: 92 Min.
Inhaltsangabe
2. Juni 2001, so steht es in dem alten Videoband eingeblendet. Eine russische Familie feiert ausgelassen den Abschied vom Sohn Petja. Der 18-jährige geht als Soldat nach Tschetschenien. Mit 19 ist er ein Krüppel: er hat einen Arm und ein Bein verloren. Auf eine Mine sei er getreten bei seiner Tätigkeit im Bataillon für besondere Aufgaben. Welche Aufgaben das waren, darüber schweigt er. In Kriegshandlungen sei er nicht verwickelt gewesen. Nun muss er lernen, mit Prothesen umzugehen und am Leben nicht zu verzweifeln. Eine Last, mit welcher der gleichaltrige Kiril nicht klar kommt. Körperlich ist er unversehrt, seine Seele aber zerbrochen. Er trinkt, ihm wird Raub vorgeworfen und die Vergewaltigung von Kindern. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg ist er ein anderer Mensch geworden. Nun sitzt er im Gefängnis und wartet auf seine Verurteilung. Die ehemaligen Soldaten sind sich selbst und allen anderen fremd geworden – wie weiße Raben unter all den schwarzen. Auch Katja geht es so. Sie sei so schnell erwachsen geworden, sagt die Krankenschwester. Die Arbeit im Lazarett habe sie gezeichnet.
Drei Jahre lang haben Tamara Trampe und Johann Feindt ihre Protagonisten immer wieder besucht und dabei beobachtet, wie sie versuchen, nach einem schmutzigen Krieg wieder in der Gesellschaft Fuß zu fassen. So wie Sergej, der schon in Afghanistan gekämpft hat. Immer noch verfolgen ihn Alpträume: Er träumt, ein 14-jähriges Mädchen habe seinen Kameraden erschossen. Da habe er das Mädchen an den Haaren gepackt und an eine Wand geschleudert. Nur die Haare habe er dann noch in den Händen gehalten. Auf die Frage „War das nur ein Traum?“ antwortet er leise: „Ehrlich gesagt, es war so.“
Begründung der Jury
Am Schluss von Tamara Trampes und Johann Feindts Dokumentarfilm „Weiße Raben“ hat der Krieg alles zerstört. Petja und Kiril, die als junge Männer in den Tschetschenienkrieg zogen, sind am Ende. Der eine ist physisch ein Krüppel und psychisch ein Wrack. Ihm fehlen das linke Bein und der linke Arm. Er ist Alkoholiker und sitzt vor dem Computer, ohne Sinn und Perspektive. Der andere ist seelisch zerstört aus dem Krieg heimgekehrt und hat keinen Tritt mehr gefasst. Er hat eine Minderjährige vergewaltigt und wird für Jahre ins Gefängnis kommen. Seine Augen starren ins Leere.
„Weiße Raben“ ist nicht nur ein Film über den Tschetschenienkrieg. Es ist ein Film, der vom Tschetschenienkrieg spricht, aber auch andere Kriege meint, in denen junge Männer zu Tätern werden, zu Mördern und Folterern, und gerade dadurch zu Opfern des Krieges. Tamara Trampe und Johann Feindt zeigen exakt diese Dialektik. Die Täter sind auch Opfer, und sie bleiben zugleich Täter.
Der Vater schickt Petja mit dem Satz in den Krieg, die Armee mache Männer aus den Jungs. In diesem Film wird der Krieg zum Verbrechen, weil er junge Männer zu Verbrechern macht.
Tamara Trampe und Johann Feindt haben ihre filmischen Porträts der jungen Soldaten klug ergänzt um die Berichterstattung über die Gefangennahme und das ungewisse Schicksal tschetschenischer Kämpfer, die Lebensbeichte eines Afghanistan-Veteranen und die Bemühungen russischer Soldatenmütter. Ohne die Taten zu entschuldigen zeigen sie, wie der Krieg, der hinter den Nachrichtenbildern steckt, das Leben auch derer zerstört, die überleben. Die Autoren entlassen den Zuschauer nie aus der ausweglosen Umklammerung von Täter- und Opfer-Sein.
Beeindruckend ist die emotionale Kraft des Films, die sich aus den stillen Momenten speist. Bilder, die nur entstehen konnten, weil die Autoren eine berührende Nähe zu ihren Protagonisten entwickelt haben. Die verschiedenen Geschichten verbinden sich zu einem Unsittengemälde des Krieges. Die Dramaturgie der Handlung und die Dramaturgie der Bilder knüpfen dabei auf gekonnte Weise an die Gebrochenheit der Akteure an. Für den Zuschauer gibt es aus den langen Einstellungen und manchmal quälend sachlichen Interviews kein Entkommen, so wie es kein Entkommen aus diesem Krieg gibt.
„Weiße Raben“ ist ein Film über die Spuren, die der Krieg in den Körpern und Seelen der Menschen hinterlässt. Damit ergänzt er auf notwendige Weise das Wissen über den Krieg, das die Nachrichtenbilder liefern, um die existentielle Dimension. „Weiße Raben“ bleibt jedoch nicht bei den Schrecken stehen, sondern bringt den Zuschauer, ohne ihn jemals überreden zu wollen, dazu, mit den Tätern, die auch Opfer sind, mitzuempfinden.