Adolf-Grimme-Preis an
Max Eipp (Buch)
Züli Aladag (Regie)
Wolf-Dietrich Brücker (Redaktion)
Oktay Özdemir und August Zirner (stellv. für das Darstellerteam)
Stab
Produktion: Colonia Media, Christian Granderath
Buch: Max Eipp
Regie: Züli Aladag
Kamera: Wojciech Szepel
Schnitt: Andreas Wodratschke
Darsteller: Oktay Özdemir, August Zirner, Corinna Harfouch, Robert Höller, Ralph Herforth u.a.
Redaktion: Wolf-Dietrich Brücker
Erstausstrahlung: Freitag, 29.9.2006, 22.00 h
Sendelänge: 89 Min.
Inhaltsangabe
„Sei kein Feigling wie dein Vater, Junge!“ provoziert der junge Türke Can den deutschen Jungen Felix und animiert ihn zu gefährlichen Mutproben. Can und seine Gang ziehen Felix schon seit geraumer Zeit ab, erpressen ihn um Geld oder seine neuen Schuhe. Es ist der Konflikt zwischen den Habenden und Nichthabenden, der Konflikt zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen im selben Deutschland. Can verliert sich immer mehr in Aggressionen, während der behütet und gebildet aufgewachsene Felix in seinem Elternhaus moralischen Halt und Werte vermisst. So bewundert Felix trotz vieler Demütigungen Can, dessen Name übersetzt „Seele“ bedeutet. Er schätzt den Zusammenhalt türkischer Familien und deren Ehrgefühl, das sein Vater Simon, ein Literaturprofessor, als rückständig empfindet. Seinem Vater hingegen wirft Felix vor, ein deutscher Feigling mit Hitlerkomplex zu sein, jemand, der ständig Angst hat, etwas falsch zu machen. Tatsächlich läuft vieles im Hause Laub längst nicht so gut, wie es nach außen hin den Anschein hat.
Simon und Christa führen eine aufgeklärte offene Beziehung, was faktisch nichts anderes bedeutet, als dass sie einander hinter dem Rücken des jeweils anderen betrügen und Toleranz als einen Weg benutzen, keine klare Stellung beziehen zu müssen. Als der Vater sich aber doch in den Konflikt der beiden Jugendlichen einmischt, greifen Cans Provokationen mehr und mehr auf Simon über. Es entwickelt sich auf beiden Seiten eine nicht aufzuhaltende Spirale der Gewalt.
Begründung der Jury
Was für ein kühnes, interkulturelles Drama. Ein Thriller, der die Probleme von Jugendlichen mit Wagemut thematisiert: Der kriminelle Türke Can, der mit seiner Jugendgang einem deutschen Gymnasiasten von Geld bis zu den Schuhen alles abknöpft, was ihm gefällt; und schließlich, mit eskalierender Brutalität, die ganze Familie tyrannisiert, bis er am Ende in einem atavistischen Gewaltausbruch vom Vater des Schülers getötet wird. Mit diesem provokanten Stoff, als aufwühlender Thriller glänzend inszeniert, hat „Wut“ den Blick auf einen hochbrisanten gesellschaftlichen Konflikt fokussiert: Jugendgewalt im Migrantenmilieu – und die Unfähigkeit, ihr zu begegnen. „Wut“ liefert keine Erklärungen, keine sozialtherapeutisch motivierte Schuldzuweisung, keinen Vorwurf und keine Antwort. „Wut“ ist eine schroffe, dramaturgisch radikal voran getriebene Tragödie des Zusammenpralls zweier Kulturen, die einander zutiefst fremd sind; das pessimistische Bild gescheiterter Integration und eklatanter Hilflosigkeit auf beiden Seiten. Hilflos ist die ungezügelte Wut des hasserfüllten Türken Can, und als genauso hilflos in ihrer Weltfremdheit erweist sich auch die Liberalität des deutschen Vaters Simon.
„Wut“ ist aber auch das Drama einer allein gelassenen Jugend, deren Väter als Vorbild nicht mehr taugen. Denn so wenig wie der tolerante Intellektuelle Simon die Realität seines Sohnes Felix versteht – und deshalb von ihm verachtet wird –, so wenig ist Cans Vater, der klassische Gemüsehändler, der kriminellen Energie seines Sohnes gewachsen. Nicht die Söhne sind es, die Schuld an der mörderischen Katastrophe tragen – es sind die Väter, die ihrerseits in einer Parallelwelt der moralischen Reflexe oder überkommener Familienehre leben, die nichts vom Leben ihrer Söhne wissen, ihnen nichts Hilfreiches zu sagen, geschweige denn vorzuleben haben. Dass aus den Söhnen Freunde hätten werden können, wird in einer ergreifenden Szene angedeutet. Und in Oktay Özdemirs beängstigend brillanter Darstellung des Can wird nicht nur die gewalttätige Wut, sondern auch die dahinter liegende Verzweiflung eines kulturell entwurzelten Underdogs erkennbar. Brillant auch August Zirner, Cans Gegenpart: der liberale deutsche Vater, dessen vermeintliches Verwurzeltsein in Kultiviertheit sukzessive die mörderische Wut zu Tage fördert, die unter dem zivilisierten Firnis schwelt. Ein Fernsehereignis, das auch dem Fernsehfilm-Redakteur des WDR, Wolf-Dietrich Brücker, zu verdanken ist. Seit den siebziger Jahren steht sein Name für zahlreiche Produktionen („Acht Stunden sind kein Tag“, „Rote Erde“, „Smog“, „Reporter“, „Die Polizistin“, „Mein Vater“), die Fernsehgeschichte geschrieben haben, weil sie Realitätsbezug, ästhetische Innovation, experimentellen Mut und Erfolg beim Publikum zu verbinden wussten. Kein Wunder also, dass unter der Verantwortung von Wolf-Dietrich Brücker ein so außerordentlicher Thriller wie „Wut“ entstehen konnte.