Adolf-Grimme-Preis an
Hans Steinbichler (Regie)
Matthias Brandt, Maria Popistasu (Hauptdarstellung)
Produktion: sperl + schott film
Stab
Produktion: sperl + schott film, Dr. Gabriela Sperl, Uwe Schott
Buch: Robert Seethaler
Regie: Hans Steinbichler
Kamera: Christian Rein
Schnitt: Christian Lonk
Musik: Antek Lazarkiewicz
Darsteller: Maria Popistasu, Matthias Brandt, Sven Pippig, Monica Bleibtreu u.a.
Redaktion: Michael André (WDR), Andreas Schreitmüller (ARTE)
Erstausstrahlung: Freitag, 21.11.2008, 21.00 Uhr
Sendelänge: 88 Min.
Inhaltsangabe
„Eine Familie ist wie ein Baum ... wenn sich ein Vogel darauf setzt, heißt das noch lange nicht, dass er dazugehört ...“ – eine klare Ansage, die die junge Rumänin Irina von ihrer zukünftigen Schwiegermutter bekommt. Im Mittelpunkt ihres Konflikts steht Erwin. Mit Ende 30 betreibt er zurückgezogen mit seiner Mutter eine Tankstelle irgendwo in der Provinz. Durch Irina wird das biedere Dasein von Mutter und Sohn gehörig auf den Kopf gestellt. Erwin, der sich am liebsten mit seinem Aquarium beschäftigt, ist von ihrer Energie völlig überfordert. Seine Mutter hingegen bewegt die Angst, ihren einzigen Sohn an Irina zu verlieren. Dabei haben sie sie doch selbst in ihr Leben geholt. Frei nach dem Motto „Es gibt für alles einen Markt!“ haben sie sich an eine rumänische Heiratsagentur gewendet, damit Erwin versorgt ist, wenn seine Mutter mal nicht mehr ist. Und nun sitzen die drei zwischen allen Stühlen, irgendwo zwischen Aufbruch und purer Verzweiflung, weil sich ihr Leben von Grund auf ändern wird: Irina verschweigt, dass sie in ihrer Heimat eine kleine Tochter zurückgelassen hat, und sucht ihren Platz in ihrem neuen Zuhause. Die Mutter, einst eine starke Frau, die immer alles allein regeln musste, spürt, wie ihre Kräfte schwinden. Und Erwin, der immer noch in seiner Rolle des unmündigen Sohnes gefangen ist, muss lernen, ein eigenständiges Leben zu führen. Der österreichische Autor Robert Seethaler, der das Drehbuch schrieb, verarbeitete eine Variation des Themas auch in seinem Roman „Die weiteren Aussichten“.
Begründung der Jury
Weil es für alles einen Markt geben soll, fährt der 41-jährige Erwin Kolarek nach Rumänien, um sich eine Frau zu suchen. In der exklusiven Sterilität der Heiratsagentur verschenkt er seine Mitbringsel-Körbe, wiederholt formelhaft seine Fragen und trifft schließlich auf Irina. „Der Name bedeutet Frieden“, erklärt ihm die junge Rumänin, „aber das stimmt nicht.“ Erwins Name dagegen „bedeutet nichts. Einfach Erwin“. In Deutschland angekommen, gerät Irina schnell in Konflikt mit Erwins dominanter Mutter, die ihren Sohn als Muttersöhnchen klein hält. Zwischen Mutter und Irina, altem und neuem Leben hin- und hergerissen, muss Erwin sich eine neue Rolle suchen. Er muss erwachsen und ein Mann werden.
„Die zweite Frau“ ist die reichlich verspätete coming of age-Geschichte des Muttersöhnchens Erwin Kolarek; ein Bauer-sucht-Frau-Drama der etwas anderen Art, ein Film über die Natur in vielerlei Hinsicht. Zwischen Erwins Welt – einer Tankstelle wie von Edward Hopper verloren in die fränkische Provinz gemalt – und Irinas Rumänien mit seinen Wohn-Silos und aseptischen Hühnerfarmen entfaltet sich das Naturschauspiel der Protagonisten. Ein pittoresker luftdichter Glaskasten hier, die trostlose rumänische Lebendigkeit dort. Irgendwann im Film wird Irina Erwins großes Zierfisch-Aquarium in seinem noch größeren Tankstellen-Aquarium zerschlagen. Die maulbrütenden Buntbarsche müssen sterben, damit Erwin versteht, was es heißt, zu leben …
Regisseur Hans Steinbichler ist ein wunderschöner Film gelungen, eine liebevolle Psychopathologie zweier Alltagsschicksale. Frei von den Fallstricken des Klischees, distanziert und empathisch zugleich, wird das Peinliche kommensurabel, das Glückliche traurig, das Selbstverständliche unverständlich und das Natürliche fremd. Ein blattloses Bäumchen aus Rumänien avanciert zu einer stillen Liebeserklärung und wechselt von Hand zu Hand. Und wenn die stahlgraue Mutter in ihrer bratensoßenbraunen Welt Erwin dicke Knödel serviert, zieht sich dem Zuschauer der Magen zusammen.
Mit wenigen Worten und starken Metaphern hält der schmerzhaft genaue Film die Balance zwischen Ernst und Schmunzeln, Abstand und Nähe zu den Protagonisten. Ein Kammerspiel, getragen von den brillanten Hauptdarstellern Matthias Brandt und Maria Popistasu, die ihren Figuren Wärme und Menschlichkeit verleihen, in den vielen kleinen und den wenigen großen Gesten, in Armseligkeit und Stärke. Ihre überragende Schauspielkunst macht „Die zweite Frau“ zu einem großen Fernseh-Film.