PreisträgerInnen
Brigitte Maria Bertele (Regie)
Claudia Michelsen (Darstellung)
Lars Eidinger (Darstellung)
Produktion: teamWorx
Erstausstrahlung: Mittwoch, 27.11.2013, 20.15 Uhr, DasErste
Sendelänge: 90 Min.
Inhalt
„Warum ist es an einem Ort wie hier nicht möglich, eine geregelte Sexualität zu leben? Ohne Beziehung?“, fragt Lehrer Thomas Weidmann seinen Direktor. „Warum versuchen Sie es nicht mal im Internet?", entgegnet der Chef. Willkommen in Bergenstadt, einer Gemeinde in Oberhessen. Hier feiern die Bewohner alle sieben Jahre den „Grenzgang“. Mit dem Volksfest bekräftigen sie die Gemeindegrenzen. Thomas Weidmann hat zuvor seine Freundin verlassen und ist aus Berlin in sein Heimatdorf zurückgekehrt. Hier begegnet er Kerstin Werner. Auch Ihre Beziehung ist zerbrochen. Frisch getrennt, teilen beide einen kurzen, intensiven Augenblick der Nähe. Erst sieben Jahre später sehen sie sich wieder. Inzwischen haben sie realisiert, dass sich ihre erträumten Lebensentwürfe doch nicht so erfüllen, wie zunächst erhofft: Kerstin ist mittlerweile geschieden und hält mit hart erkämpfter, doch leicht ramponierter Würde an ihrem Leben in Bergenstadt fest. An ihrer Seite: ihre demenzkranken Mutter und ihrem pubertierenden Sohn. Aber auch Thomas ergeht es nicht besser. Als gescheiterter Historiker fühlt er sich in Bergenstadt wie ein gestrandeter Heimkehrer, der sich beständig in das lebende Klischee eines allein stehenden Studienrates verwandelt. Er begnügt sich damit, weiterhin Klassenlehrer zu bleiben – ausgerechnet von Daniel, Kerstins Sohn. Kurz vor dem nächsten „Grenzgang“-Fest kommen sich Kerstin und Thomas erneut näher. Aber diesmal tun sich die beiden Mittvierziger mit ihren zerplatzten privaten und beruflichen Träumen schwer. Doch sie wollen ihre zweite Chance nicht vertun.
Stab
Produktion: teamWorx
Federführender Sender: WDR
Buch: Hannah Hollinger nach der Romanvorlage von Stephan Thome
Regie: Brigitte Maria Bertele
Kamera: Hans Fromm
Schnitt: David Rauschning
Ton: Carsten Arnolds
Musik: Christian Biegai
Darstellung: Claudia Michelsen, Lars Eidinger, Gertrud Roll, Sandro Lohmann, Gesine Cukrowski, Harald Schrott, Hanns Zischler
Redaktion: Michael André (WDR), Christian Granderath (NDR)
Jurybegründung
Die Figuren, die uns das Fernsehen ans Herz legen will, stehen oft unter Kuratel. Wir sollen sie verstehen. Sollen bangen, aber nicht zu sehr. Sollen getröstet werden. Sollen bestärkt entlassen werden in die Nacht und ins Leben. So sehen dann die Menschen, die Figuren oft aus: zwangserheitert, bevormundet, tatkräftig, themengeleitet, quotenverpflichtet, qualitätssiegelbeschwert, programmbeflissen, unfrei.
„Grenzgang“ jedoch wagt sich hinaus, mutet uns offene Figuren und Geschichten zu, lässt seine Menschen leben, erzählt von und mit Bruchstücken, mutet uns Erzählungen zu, die nicht sofort in Schubladen passt. Wir tauchen ein in die Provinz, eine Landschaft und Lebensform, die ihre Würde bewahren darf, weil sie hier einmal nicht denunziert wird als Stube voller Käuze, als komische Zone oder verlogene Antithese zur Stadt. Lars Eidinger als Thomas und Claudia Michelsen als Kerstin spielen ein Paar, das keines ist, das zusammenfindet ohne geschäumte Gefühle und dramatische Klippen. Das Leben ist spröde, zerkaut sie, macht sei klein und grau und groß in ihrer stillen Not.
Sehr behutsam nähert sich dieser Film seinen Menschen und entwindet sie dem konventionellen Zugriff. Kerstin ist allein und doch nicht. Ihr Mann ging, der Sohn blieb, auch die Mutter, die an Demenz erkrankt ist. Was bleibt? Sorge, Pflege, Sehnsucht? Thomas ist allein und doch nicht. Aus der großen Stadt geflohen, gescheitert, hier auf einen Lehrerposten geflüchtet. Sucht Körpertrost, Sex, suhlt sich in Zweifel und Zynismus. Was bedeutet ein Kuss zwischen diesen beiden, ein Kuss, sieben Jahre alt, damals beim Grenzgang?
Der Film lotet dieses Spannungsgebiet aus, vor und zurück, verknüpft gekonnt Gegenwart und Erinnertes. Die Regisseurin stellt die Bilder gleichberechtigt neben die Sätze, und das Drehbuch ermöglicht uns, die inneren Bewegungen und Bedenklichkeiten der „Helden“ mitzuerleben. Das sind „Helden“ jenseits der Komfortzone, das sind „Helden“ ohne Heldenabzeichen, das sind Helden wie wir, also keine. Wir sehen uns an, tasten uns ins undurchdringlich Gesponnene.
Die große Kraft und Kunst dieses Films liegt in seiner Behutsamkeit und Zärtlichkeit, mit der er unbeirrt seine Geschichte verfolgt, ohne sie an allzu geglückte Wendungen oder melodramatische Katastrophen zu verkaufen. Thomas und Kerstin sind keine Kompromissformeln auf zwei Beinen. Sie leben. Sie hatten Glück mit den Schauspielern, die ihnen Atem schenkten, mit der Regisseurin, die ihnen diffuses Fühlen erlaubte, und mit einer Geschichte, die uns Geborgenheit jenseits des süßlichen Trostes gewährt.