49. Grimme-Preis 2013

Lebt wohl, Genossen (ZDF/ARTE/rbb)

PreisträgerInnen

Andreï Nekrasov, György Dalos (Buch)
Christian Beetz
(Produktion)
Georg Tschurtschenthaler (Produktion)

Produktion: Gebrueder Beetz Filmproduktion, Artline Films
Erstausstrahlung: ARTE, ab Dienstag, 24.01.2012, 21.50 Uhr
Sendelänge: je 52‘

Inhalt

„Das Ende dieser Supermacht war so banal und nichtssagend, wie die Fernsehansprache, in der es verlesen wurde“, erinnert sich Andrej Nekrasov. Für den glühenden Anhänger der DDR ist der Untergang der Sowjetunion eine Katastrophe. Denn: „Der Sozialismus war nach dem Christentum der großartigste Gedanke aller Zeiten.“ In sechs Folgen wird der Zerfall der Sowjetunion portraitiert. In Form eines Dialogs zwischen Regisseur Nekrasov („Der Sozialismus ist für mich die großartigste Idee nach dem Christentum“) und seiner Tochter Tatjana – Geschichtsstudentin – geht es um Politisches und Alltägliches hinter dem eisernen Vorhang – oft auch um die Verquickung von beidem. Zahlreiche Zeitzeugen und Akteure sprechen über die damalige Zeit. Eine Lehrerin aus Rumänien erzählt von ihrer ganz alltäglichen Ungleichbehandlung : „Man wurde nicht befördert, wenn man nicht in der Partei war.“ Aber in die Partei wurden in jenem Jahr keine Intellektuellen aufgenommen, sondern nur Bauern. Bukarest wollte das so. Der ehemalige Pressesprecher von Michail Gorbatschow, Andrei Grachev, erinnert sich daran, wie die Staatschefs des Warschauer Pakts entschieden, den Kommunismus mit der Waffe zu verteidigen. Ehemalige DDR-Bürger berichten von ihren Protesten gegen das Regime. Statt sich auf die bekannten politischen Fakten zu beschränken, erzählt „Lebt wohl, Genossen!“ persönliche Geschichten von Überzeugung und Leidenschaft, Kritik und Aufbruch.

Stab

Produktion: Gebrueder Beetz Filmproduktion, Artline Films

Federführender Sender: ZDF/ARTE, ARTE France, Arte G.E.I.E,

Buch: György Dalos, Jean-Francois Colosimo, Andreï Nekrasov

Regie: Andreï Nekrasov

Kamera: Sorin Dragoi, Andrei Erastov, Roman Ielensky, István Imreh

Schnitt: Lena Rem, Sonja Baerger, Phillip Gromov, Anne Lacour

Ton: Uve Haussig, Ansgar Frerich, Bernhard Köpke?

Komposition: Nils Kacirek, Jan-Peter Pflug

Redaktion: Martin Pieper (ZDF), Peter Gottschalk (ARTE G.E.I.E.), Elisabeth Hulten (ARTE France), Rolf Bergmann (rbb)

Jurybegründung

Es gibt Kapitel im Buch der Geschichte, die möchte man lieber nicht mehr aufschlagen. So geht es dem Mann, der den Sozialismus erlebt hat. Er war stolz auf ihn, er hat ihn geliebt, er hat ihn verflucht und oft genug über seine großen und kleinen Helden gelacht. Nun ist „der großartigste Gedanke aller Zeiten nach dem Christentum“ am Ende. Und der Mann will schweigen. Aber eine Nachgeborene, ausgerechnet seine Tochter, lässt ihn nicht.

So beginnt „Lebt wohl Genossen!“. So zieht das Filmpanorama uns in seinen Bann: neugierig, fordernd und unvoreingenommen einerseits – aber auch abgeklärt, wissend, wehmütig.

„Lebt wohl Genossen!“ ist ein kunstvoller vielgesichtiger filmischer Countdown. Er beginnt auf dem Gipfel kommunistischer Systeme 1975 und zählt mit seinen Zuschauern Jahr um Jahr herunter bis zu den Tagen von Auflösung und Bedeutungslosigkeit. Es ist ein wilder Wirbel aus Mangelwirtschaft und Meinungsfreiheit, aus kleinem Glück und großen Opfern. In ihrem üppigen, auf sehr diskrete Weise schillernden Panorama erzählen die Macher, allen voran Andrei Nekrasov und György Dalos, wie kommen konnte, was nicht kommen durfte.

Ihre Aufarbeitung geht Wege abseits gängiger „History“-Dokus. Nicht visueller und akustischer Pomp, nicht suggestive Thesen regieren dieses preiswürdige Format, sondern eine unkonventionelle Bildsprache, die das Schablonenhafte alter Ost-West-Fehden bisweilen sogar comic-haft parodiert.

Und nicht Historiker oder die übliche Riege der elder Statesmen sind ihre wichtigsten Zeugen. Von der Tragik, dass eine Utopie nicht Staatsform sein kann, lässt Andrei Nekrasov vor allem Menschen aus der zweiten Reihe erzählen. Und so sind nicht die von Filmemachern bis zur Erschöpfung ausgebeuteten Bilder der Mächtigen sein Kapital, sondern stille, weise, einsichtige oder unversöhnte Menschen: Redenschreiber, Bergarbeiter, Sänger, kleine Funktionäre. Sie lassen uns Zuschauer nichts vermissen - das Drama nicht und nicht die Anekdote.

„Lebt wohl, Genossen!“ ist keine kaltherzig-schadenfrohe Abrechnung, aber auch keine knallige Wundertüte putziger Ostalgie. So gerät diese fein verästelte Spurensuche nach einem Ideal und seiner Wirklichkeit nie in die Sackgasse ideologischer Rechthaberei.

Wie gut Fernsehen ist, wenn es zuhört und hinschaut, wenn es sich Zeit nimmt und sich Zeit lässt, das zeigen diese 300 spannenden und überraschend kurzen Minuten über eine untergegangene Welt. Ein Lehrstück im besten Sinne.

 
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