PreisträgerInnen
Annekatrin Hendel (Buch/Regie)
Produktion: It Works! Medien
Erstausstrahlung: ARTE, Mittwoch, 20.03.2012, 21.55 Uhr
Sendelänge: 96’
Inhalt
„Der größte Feind im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.“ Den Spruch seiner Mutter hat er immer noch im Ohr. Schriftsteller Paul Gratzik, Jahrgang 1935, sitzt in seinem Haus, weit abgelegen in der Uckermark. Der gefeierte Vertreter der DDR-Literaturszene erzählt aus früheren Jahren. Schnell wird klar: So schwer, wie man zu ihm hinkommt, kommt man auch an ihn heran. Gratzik trug zwanzig Jahre lang ein Geheimnis mit sich herum – er war inoffizieller Stasi-Mitarbeiter. Er schrieb nicht nur Literarisches, sondern auch Berichte über Freunde und Förderer wie Heiner Müller, Steffie Spira und Ernstgeorg Hering. Anfang der 80er Jahre stieg Gratzik aus und enttarnte sich selbst. Dadurch wurde er schließlich selbst zum Objekt der Stasi-Beobachtung. Arbeiterdichter, Gigolo, Stasi-Spitzel und Einsiedler: Paul Gratziks Leben liest sich wie ein Katalog der Extreme. Mit seiner Vergangenheit hadert er bis heute. „Ich habe Dich inständig gebeten, die Toten ruhen zu lassen“, erzählt er der Filmemacherin Annekatrin Hendel vor laufender Kamera, als sie ihn auf seine Stasi-Arbeit anspricht. In einer anderen Szene soll er aus einem Bericht vorlesen, den er vor Jahrzehnten über Heiner Müller geschrieben hat. „Ich hab dir gesagt, dass ich so etwas nicht lesen möchte“, raunt er sie an. Dann macht er eine Pause und schweigt kurz. „Na gut, werden wir mal sehen, wie weit wir kommen.“ Gratzik liest vor und stockt dann wieder. „Es ist schwarz gestrichen. Ich kann mich nicht erinnern. Irgendwas muss in mir sein, was ganz schlimme Sachen im Leben auslöscht und schwärzt.“ Mit den Konsequenzen lebt er hingegen dennoch bis heute.
Stab
Produktion: It Works ! Medien
Federführender Sender: ARTE
Buch/Regie: Annekatrin Hendel
Kamera: Johann Feindt, Martin Langner, Jule Catinka Cramer
Schnitt: Jörg Hauschild
Ton: Paul Oberle, Nic Nagel
Musik: Louis Rastig
Redaktion: Anne Even
Jurybegründung
Was für ein Filmanfang: Ein Ruderboot, ein Mann, eine Frau, eine Kamera. Der Dichter Paul Gratzik rudert. Die Regisseurin Annekatrin Hendel fragt ihn aus dem Off nach seiner Stasi-Geschichte. Gratzik erinnert sich an einen Spruch seiner Mutter: „Der schlimmste Feind im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.“ Der Gedanke nagt an ihm, die Regisseurin lässt nicht locker. Er bekommt einen Wutausbruch, will plötzlich nichts mehr vom Thema seiner Stasivergangenheit wissen und von Reue schon gar nicht: „Ich geh über Bord. Ich habe kein Gewissen, ich habe keine Moral. Jedenfalls nicht eure.“
Lange nicht hat man in einem Dokumentarfilm eine so rasante, spannungsgeladene und aussagekräftige Szene gesehen – ein Lehrstück für alle Filmschulen. Und was das Beste ist:
Das Versprechen des Anfangs kann der Film einlösen. „Vaterlandsverräter“ ist ein Film der Auseinandersetzung, der Konfrontation, des Dialogischen. Der Dichter Paul Gratzik hatte in der DDR einen großen Namen als Schriftsteller, wurde von Heiner Müller protegiert, war aus einfachen Verhältnissen in die Bohème der DDR-Kunst aufgestiegen.
Dazu gehörte auch: Jahrelang arbeitete er für die DDR, schrieb miese Berichte über Freunde und Kollegen, bespitzelte selbst seine Geliebten. Anfang der 80er Jahre stieg er aus, outete sich und wurde nun selbst zum Beobachtungsobjekt. Der verratene Verräter konnte nicht mehr publizieren. Er zog sich zurück in die Einsamkeit eines Einsiedlerhofs in der Uckermark.
Annekatrin Hendel zeigt ihren Protagonisten als eine widersprüchliche, manchmal herausfordernde, manchmal anwidernde Persönlichkeit. Ein Protagonist, der sich gern um Kopf und Kragen redet, pompös, charmant, schroff. Sie lässt ihm keine Ausflüchte, zwingt ihn, sich seiner Geschichte zu stellen, respektiert ihn gleichwohl als Person. Das ist spannend bis aufregend und zwingt den Zuschauer, sich selbst zu dieser polarisierenden Figur zu stellen, eine Haltung zu finden. Es sind schon hunderte Filme über die DDR und die Staatssicherheit gedreht worden – dies ist einer der wenigen, der nicht auf den ausgetretenen Pfaden der Selbstgewissheit läuft.