52. Grimme-Preis 2016

Weinberg (TNT)

Grimme-Preis an

Anke Greifeneder, Arne Nolting, Jan Martin Scharf und Philipp Steffens für die Idee und Konzeption, eine Serie als modernes Schauermärchen in der Tradition der deutschen Romantik zu erzählen.

Produktion: Bantry Bay Productions, Twenty Four 9 Films

Ausstrahlung: Dienstag, 6.10.2015 bis 10.11.2015, TNT Serie

Sendelänge: 52’-55’

Stab

Buch: Arne Nolting, Jan Martin Scharf

Idee:  Anke Greifeneder, Philipp Steffens

Regie: Till Franzen, Jan Martin Scharf

Kamera: Timo Moritz

Schnitt: Martin Wolf

Ton: Eric Rueff

Darsteller: Friedrich Mücke, Gudrun Landgrebe, Ronald Kukulies, Antje Traue, Arved Birnbaum, Sinha Melina Gierke u.v.a.

Inhalt

Kaltenzell liegt an der Ahr wie der Inbegriff des Biedermeiers. Eingekesselt von Rebhängen, deren Trauben zu Wein rot wie Blut gepresst werden, bleiben die Winzer für sich. Außer Pfarrer Anh Hung, der Deutsch nur in Rudimenten spricht, gibt es niemand Zugereisten. Unter den Kirchgängern wuchern die heidnischen Mythen und Volkslegenden. Der Krappenmann, der seine Opfer am Fischerhaken in den Fluss zieht, geht um. Im Weinberg erwacht ein Mann mit Kopfwunde. Über ihm die tote Weinkönigin, in vollem Ornat in die Trauben gehängt. Einen Wimpernschlag später stolpert ein Junge davon. Bürgermeister Zepter, Wiedergänger Buffalo Bills, bietet Gastzimmer feil. Seine Frau, schön wie Undine, verführt den Fremden ohne Gedächtnis. Lampenlicht flackert, Jagdtrophäen sehen durch ihre Glasaugen hindurch ins Seelen-Unergründliche. Winzerfamilie Finck, geldsorgengeplagt, haust zwischen dunklem Holz, nur Tochter Sophia glänzt als Lebensfunke. Die Weinkönigin lebt, vorläufig. Familie Donatius, deren Sohn Adrian stumm ist, seit das Schwesterlein vom Krappenmann geholt wurde, spielt Patrizier. Die geheimnisumflorte Lehrerin hütet ein Nachtfalterbild. Familie Schreiber bemalt Marienfiguren und wäscht Talare. Nach und nach entlarvt „Weinberg“ alle als unsichere Kantonisten. Und welche Rolle spielt die Psychologin, die in einem architektonischen Zwilling des Brentanohauses praktiziert?

Begründung der Jury

Im Wein liegt Wahrheit. Mit welcher Alchemie kommt sie dort hinein? Und wie kommt sie aus dem Spätburgunder, der im Winzerdorf gekeltert wird, wieder heraus? In „Weinberg“, das die Aufdeckung seines Geheimnisses auf der Höhe modernen Fernseherzählens maßgebend gestaltet und dabei in außerordentlicher Weise auf Zentralelemente der deutschen Romantik zurückgreift, ist das des Pudels schauriger Kern.

Es geht um die Identität eines Fremden und seine Vision. Märchenelemente bestimmen das Geschehen. Emblematische Figuren treiben ihr (Un-)Wesen. Neben dem Helden gibt es die Königin, neidvoll gehasst, ein totes Prinzesschen mit Rotkäppchen-Haarband, herzlose Jäger,ausgestopfte Tiere, die lebendiger wirken als ihre Besitzer, gottverlassene Waisen, stumme Kinder und Eltern mit fest verschlossenen Augen. Wahrsagerinnen. Abweisende Häuser und Gassen voller Schatten. Eine Psychologin als Rettungsanker, die nicht umsonst den Namen des Förderers der Romantiker trägt: Wieland. Als Gegenspieler droht der Krappenmann aus der Volksmystik.

„Weinberg“ ist eine Serie aus dem Geist, mehr noch aus dem Gespenst der deutschen Romantik. Versatzstücke ihrer Nachtseite werden dicht ineinander verwoben. Eine Serie, die nicht nur E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ und Freuds Rezeption verinnerlicht hat und mit den Topoi des zerrissenen Helden sowie der mechanischen Augen spielt., sondern die auch im „Goldenen Topf“ desselben Dichters den Bodensatz aufrührt, bis die Schwaden des Alkohols nicht die Punschgesellschaft, sondern die aneinander gebundenen Kaltenzeller Familien um den Verstand bringen. Doppelter Boden, Spiegel- und Wiedergänger überall. Gestaltwerdung von Seelenzuständen: Ein Augapfelmodell auf dem Tisch der Lehrerin hält als ironischer Verweis die Stellung.

Romantisierend bricht das Unheimliche in die Realität der Spießbürger ein und verwirrt uns, bis Wahrnehmungserfahrung und Realitätsbegriff selbst auf dem Prüfstand stehen. Poes Raben wachen über der atmosphärisch dichten Nebelsuppe aus Mystery- und Heimatfilm. Mit Bildern, die wie sinnüberwältigende Bilderrätsel wirken, täuschend voraus- und zurückweisen, nirgends aber Touristenprospekte sind, sondern ein Zeichenuniversum eigenen Rechts. Szenen wie aus dem semiotischen Wunderhorn der romantischen Ironie.   

Es grüßen „Lost“ und „Twin Peaks“. Dennoch ist „Weinberg“ eine vollkommen eigenständige, Zitat verwandelnde Großleistung. SWR trifft LSD. Heimat trifft Horror. Bürgerliche Weinseligkeit mutiert zu schreckenerregender Beklemmung. „Weinberg“ ist eine deutsche Serienproduktion, wie wir sie uns schon lange gewünscht haben.

 
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