53. Grimme-Preis 2017

Mitten in Deutschland: NSU (Die Täter – Heute ist nicht alle Tage) (SWR/ARD Degeto/MDR)

Grimme-Preis an

Thomas Wendrich (Buch)

Christian Schwochow (Regie)

Frank Lamm (Kamera)

Anna Maria Mühe (Darstellerin)

Albrecht Schuch (Darsteller)

Sebastian Urzendowsky (Darsteller)

Produktion: Gabriela Sperl Produktion für Wiedemann & Berg Television

Erstausstrahlung: Mi, 30.03.2016, 20.15 Uhr, DasErste

Sendelänge: 102 Minuten

Stab

Buch: Thomas Wendrich

Regie: Christian Schwochow

Kamera: Frank Lamm

Darsteller: Anna Maria Mühe, Albrecht Schuch, Sebastian Urzendowsky, Nina Gummich, Jonas Friedrich Leonhardi, Ben Münchow u.v.a.

Redaktion: Martina Zöllner (SWR), Ulrich Herrmann (SWR), Christine Strobl (ARD Degeto) – Teil 1-3; Jana Brandt (MDR), Johanna Kraus (MDR) – Teil 1-3

Inhalt

Jena 1990, nach dem Zusammenbruch der DDR ist nichts wie es vorher war. Wo zuvor sozialistische Ideale beschworen wurden, gibt es nun Meinungspluralismus. Wo Planwirtschaft regierte, herrscht der freie Markt. Wo offiziell jeder einen Job hatte, droht die Massenarbeitslosigkeit. Viele junge Menschen zieht es nach Westdeutschland; wer zurückbleibt in Jena, sucht zwischen Jugendheim, Arbeitsamt und neuen Einkaufswelten nach Orientierung.

So auch Beate Zschäpe (Anna Maria Mühe). Den Lehrern in der Schule zeigt sie ihre Verachtung, im Supermarkt klaut sie Westprodukte, in der Hausbesetzerszene säuft sie zu Punkrock und im Jugendheim tanzt sie zu Oi!-Musik mit Skinheads. Unter den Skins ist auch Uwe Mundlos (Albrecht Schuch), mit dem sie bald ihre gesamte Zeit verbringt. Er führt sie in die rechtsradikale Szene ein, eine Liebesbeziehung vor braunem Hintergrund.

Nachdem Mundlos seinen Dienst bei der Bundeswehr angetreten hat, wendet sich Zschäpe Uwe Böhnhardt (Sebastian Urzendowsky) zu, der gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Die beiden haben ein Verhältnis, das von Sex und Gewalt bestimmt wird. Als Mundlos vom Bund zurückkehrt, bilden die drei eine Zelle, aus der heraus sie größere Straftaten planen. In einer angemieteten Garage lagern sie Sprengstoff. Das Versteck fliegt auf, das Trio geht in den Untergrund.

Begründung der Jury

Es ist ein unübersichtliches Terrain, auf das der Drehbuchautor Thomas Wendrich und der Regisseur Christian Schwochow den Zuschauer in ihrem Film mitnehmen. Wir tauchen mit Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt in linke Hausbesetzerpartys ein, sind mit ihnen inmitten eines Pogo tanzenden Skinheadspulks. Jena-Winzerla Anfang der Neunzigerjahre, das ist in diesem Milieu-Drama über den Nährboden des NSU ein Ort der Aggression und der Diffusion: Die Trennlinien zwischen den Szenen sind unscharf; wer gestern noch mit Hausbesetzer-Irokesenschnitt rumlief, trägt heute auf einmal Glatze und Springerstiefel. Wer gestern noch zusammen soff, haut sich heute auf die Schnauze.

Wendrich und Schwochow fangen das Chaos und die Orientierungslosigkeit atmosphärisch dicht ein, nie aber verliert sich ihre Erzählung in eben diesem Chaos und dieser Orientierungslosigkeit. So dicht die Filmemachern ihren Protagonisten im Bild auf den Fersen sind bei deren emotionalen und ideologischen Erkundungen im Jena der Wende- und Nachwendezeit – sie halten in der Bewertung doch immer Distanz und zeigen deutlich die Wendepunkte auf, wo die Verwirrung erst in die Verblendung und schließlich ins Verbrechen kippt.

Eine riskante Erzählanordnung, die auch deshalb aufgeht, weil das Schauspielerensemble noch im komplett entfesselten und hoch beschleunigten Spiel die moralischen Erosionsprozesse nachzuzeichnen versteht. So sehr die Protagonisten am Anfang auch in den Urschlamm des ostdeutschen Neonazismus geworfen erscheinen – sie entscheiden sich im Laufe der Handlung bewusst für Hass, Gewalt, Zerstörung. Freispruch ausgeschlossen.

Anna Maria Mühe zeigt verstörend genau auf, wie Zschäpe im Rassismus ein Ventil für ihre Weltenverachtung findet. Sebastian Urzendowsky nutzt in seiner Rolle als Böhnhardt die Demütigung anderer als Weg, die eigene Demütigung zu überwinden. Und Albrecht Schuch, die große Entdeckung in diesem Film, entwickelt seinen Mundlos vom Säufer-Skin zur ideologischen Kampfmaschine. Ein Gewaltakt von Film, der bedingungslos die Wirkungszusammenhänge des deutschen Rechtsradikalismus‘ aufzeigt wie keine Fernsehproduktion zuvor.

 
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