56. Grimme-Preis 2020

SeaWatch3 (STRG_F/Panorama/NDR Dokfilm für NDR)

Grimme-Preis an

 

Nadia Kailouli (Buch/Regie/Kamera)

Jonas Schreijäg (Buch/Regie/Kamera)

 

Produktion: NDR – Eine Zusammenarbeit von STRG_F, Panorama und NDR Dokfilm

Erstausstrahlung: NDR, Mittwoch, 09. Oktober 2019, 00:00 Uhr

Sendelänge: 111 Minuten

 

Inhalt

Als die NDR-Reporter Nadia Kailouli und Jonas Schreijäg im Sommer 2019 auf der „Sea-Watch 3“ einschiffen, ist das Kommando unklar. Carola Rackete, die Kapitänin, kommt erst dazu, als die Vorbereitungen abgeschlossen sind. So korrigieren sich schon durch die simple Chronologie der Ereignisse Bilder einer Ikone, die als politische Heldin oder als vorsätzliche Gesetzesbrecherin bald berühmt gemacht wird. Auf dem Schiff führt konsequente Beobachtung Regie. Kailouli und Schreijäg sind die einzigen journalistischen Augenzeugen, als das Schiff rund vierzig Geflüchtete aus Seenot rettet. Beide dokumentieren während der kommenden Wochen die wachsende Anspannung, die Maßnahmen der Crew und die Entscheidung der Kapitänin zur Einfahrt in den Hafen von Lampedusa. An Bord erzählen einige Gerettete von ihrer Flucht. Es entsteht Panik, als Kranke das Schiff verlassen dürfen. Italienische Justiz und Küstenwache betreiben formallegale Einschüchterung, kommen nachts in Paradeuniform an Bord, verlangen Unterschriften und Crewlisten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte lehnt den Eilantrag ab. Schließlich fährt Rackete wegen der festgestellten Notlage entgegen der Anweisung des italienischen Außenministers Salvini in den Hafen ein. Am Kai wartet die Polizei auf sie – und die Schaulustigen.

 

Stab

Produktion: NDR – Eine Zusammenarbeit von STRG_F, Panorama und NDR Dokfilm

Buch/Regie/Kamera: Nadia Kailouli, Jonas Schreijäg

Schnitt: Tim Rieckmann

Ton: Jörn Bomhardt

Musik: Nils Frahm

Crew der Sea-Watch 3: Chad Ashby, Dan Bebawi, Till Egen, Philipp Hahn, Gerald Karl, Isis Lahille, Viktoria Lange-Brock, Ariane Masson, Sören Moje, Jonas Müller, Janna Nehls, Carola Rackete, Haidi Sadik, Joan Sanchez, Oscar Schaible, Lina Scholtz, Lorenz Schramm, Valeria Scottani,
Cristian Totti, Verena Würz

Redaktion: Timo Grosspietsch, Anna Orth

 

Begründung der Jury

Am Hafen von Lampedusa stehen bei Einfahrt der „Sea-Watch 3“ die Schaulustigen. Das Schiff der privaten Seenotrettungsmission mit seinen mehreren Dutzend Geflüchteten an Bord hat zu diesem Zeitpunkt Wochen auf dem Meer hinter sich. Italiens Innenminister Salvini hat der Kapitänin Carola Rackete die Einfahrt in den nächsten sicheren Hafen verweigert, die anderen europäischen Staaten haben entweder ganz geschwiegen oder auf die Notwendigkeit einer gemeinsamen Lösung verwiesen. So nicht untätig, dann auf jeden Fall folgenlos. Die NDR-Autoren Nadia Kailouli und Jonas Schreijäg sind als einzige Journalisten über den gesamten Zeitraum der erzwungenen Odyssee an Bord der „Sea-Watch 3“. Sie sind mittendrin statt bloß dabei, wie all die anderen Schaulustigen und „News“-Produzenten und -Rezipienten, die sich für das vermeintlich „spannende Echtzeitdrama“ im Mittelmeer immer stärker interessieren.

Ihr langer Dokumentarfilm entfaltet das Geschehen chronologisch, verdichtet ausdrucksstark, hebt einzelne Personen hervor und vermeidet doch eines konsequent: die Geschichte der „Sea-Watch 3“-Rettungsmission, die auch für einen Steven-Spielberg-Heldinnenfilm taugen würde, zum dramatischen Egotrip zu erklären. Auf vorbildliche Weise sieht man dem Film das journalistische Ethos der Beobachtung an. Genaues Hinschauen, wo die „News“-Zuspitzung vor allem an praktikablen Verkürzungen für Beitragshäppchen interessiert ist. Dabeisein, wo andere sich mit einem oberflächlichen Blick begnügen. „SeaWatch3“ ist ein doppelter Glücksfall des Dokumentarischen. Am Anfang steht das Reporterglück, exklusiv zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein – dann aber folgt das bedeutsamere Glück, das Gefundene auch filmästhetisch der Wahrheit verpflichtet zum Sprechen zu bringen.

Kailouli und Schreijäg gelingt mit ihrer dramaturgisch herausragend gebauten Chronik ein Dokument von starker Relevanz. Sowohl die Psychologie der Migrant*innen als auch die der Crew, die Warterei, das Quälende, der Aufbruch und die Dramatik der Ankunft werden in einer fast thrillerartig verdichteten Intensität, in einer Tiefe und einem Farbenreichtum gezeigt, die ihresgleichen suchen. Die klug überlegte Proportionierung erstreckt sich auch auf die Personendarstellung Carola Racketes. Ohne ihre ikonische Rolle zu schmälern, zimmert der Film dennoch kein Heldinnendenkmal – sondern zeigt beispielsweise eher ihren konsensuellen Führungsstil und die Hierarchiekonventionen an Bord. Geschickt nimmt „SeaWatch3“ auch die Rolle der berichtenden Medien auf – und wenn man hier nichts über die Notwendigkeit freier Presse erfährt, wo dann?

 
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