(FLORIDA FILM für ARD Degeto)
Grimme-Preis an
Lars Jessen (Buch/Regie)
Jan Georg Schütte (Buch/Regie)
Charly Hübner (Buch/Darstellung)
Erstausstrahlung/-veröffentlichung:
ARD Mediathek, Mittwoch, 23.12.2020, 00.00 Uhr
Lauflänge: 4 x 22 – 24 Min.
Inhalt
Andy Brettschneider, Investmentbanker und Multimillionär, steht vor dem nächsten Karrieresprung und einer neuen privaten Entwicklung. Da erhalten sein Arbeitgeber und seine Mutter einen Brief mit einer schwerwiegenden Anschuldigung. In einem Roadmovie begibt sich Andy auf eine Reise von Frankfurt am Main zurück in seine mecklenburgische Heimat, auf der Suche nach Erinnerungen an den Sommer 1990. Und während wir in den Begegnungen mit der Vergangenheit, von den Freunden von damals, vieles über die Gegenwart erfahren, offenbart sich das eigentliche Dilemma: Was bleibt im großen gesellschaftlichen Umbruch von den persönlichen Träumen? Vor 30 Jahren verschwand ein Land: seine Menschen, ihre Identitäten, ihre Biografien, ihre Geschichten und Erinnerungen jedoch nicht.
„Mudders“, Katrin und Annette, Sven, Marina oder Berit, vor allem aber Ronny, Andys bester Freund, erleben einen an ihrem Leben oberflächlich interessierten, sich generös und jovial gebenden Fremdgewordenen, der von oben herab um seine Reputation ringt. Auch wenn sich die Anschuldigung einer Vergewaltigung als unwahr erweist, zurück bleiben unverheilte Verletzungen, verdrängte Enttäuschungen und gebrochene Versprechen.
Und bevor wir als Volk diese politisch gewordene Herausforderung überhaupt bewältigt haben, kommt eine neue, das Leben umfassend verändernde, dazu.
Begründung der Jury
In einem Erzählbogen, der „das Kleine groß denkt“, wird die Figur des Andy in eine Art Spiel gesetzt. Immer wieder steigt er in sein Auto und dann geht ein neues Feld um die Erinnerungen der Figuren auf. Dieses Spiel bietet einerseits ein facettenreiches Panorama deutscher Befindlichkeit und andererseits eine unfertige Improvisation, bei der die Handlung sehr reizvoll flattert. „Für immer Sommer 90“ verhandelt in einer stimmigen Kombination aus persönlichem und gesellschaftlichem Nicht-Vergessen-Können, dass die Schere größer wird zwischen den Gewinnern und Verlierern der deutschen Einheit, zwischen denen, die in der Stadt Geld verdienen, und denen, die in der Provinz verbleiben, zwischen denen, die gegangen, und denen, die geblieben sind. Beeindruckend beschreiben die zwischen Improvisation und klugem Drehbuch geführten Dialoge sehr aktuell etwas über die Spaltung der Gesellschaft innerhalb einer Generation. In den unterschiedlich starken Einzelgeschichten ragen die Begegnungen von Andy (Charly Hübner) mit seiner Mutter (Walfriede Schmitt) und mit seinem Freund Ronny (Peter Schneider) heraus. Die pointierten Gespräche laufen am Ende der Reise in einer Szene zwischen Andy und Ronny auf den dramatischen Höhepunkt zu. „Du hast dieses Land verteidigt und ich habe für dieses Land Geld verdient. Das ist doch beides gut.“ Hier ist nichts gut. Der, der gekämpft hat, bringt sich um. Der, den das Geld komplett verändert hat, versteht den Sinn dieser Reise zu spät. So gelingt es überzeugend, Biografien über Trauer, Hass und Neid, über verlorene Lieben und Freundschaften zu gestalten.
Die als vierteilige Miniserie ausgestrahlte Fernseherzählung überzeugt vor allem als Teamarbeit. Die in Kurzfilmart geschnittenen Einzelfolgen bieten eine alternative Erzählform. Auch wenn das noch nicht 100-prozentig gelang, befindet die Jury dieses Fernseh-Experiment für preiswürdig und wünscht sich mehr innovative, unkonventionelle Erzählstrukturen und -formen zur besten Sendezeit.
Die Jury würdigt darüber hinaus die herausragende Einbindung des aktuellen gesellschaftlichen Zustandes: ein Land unter der Corona-Pandemie, nicht zum Thema erklärt, sondern im Spiel bearbeitet. Von einer unbeholfenen Umarmung, der vergessenen Maske bis zum privaten Corona-Hilfsscheck finden sich viele weitere Momente des neuen Alltags. Die vom Autoren- und Regieteam Charly Hübner, Lars Jessen und Jan Georg Schütte dafür eingesetzten Improvisationen geben einer fiktionalen Bearbeitung von unmittelbarem Zeitgeschehen den nötigen Spielraum. Und so bleibt eine sich authentisch entwickelnde Fernseharbeit in Erinnerung, die zu 30 Jahren Deutscher Einheit unbearbeitete Geschichte, gewandelte Gegenwart und gedachte Zukunft auffächert. Für uns Zuschauer*innen bleibt Raum für Assoziatives und selbst Erfahrenes.