57. Grimme-Preis 2021

Grimme-Preis Spezial an Isabel Schayani

… für ihre Interaktions- und Vermittlungsleistung im Rahmen ihrer kompetenten, empathischen und singulären Berichterstattung aus Moria (WDR).

 

Die journalistische Betrachtung der europäischen Asyl- und Migrationspolitik mit ihren Folgen für viele Menschen hat 2020 im Vergleich zu den Vorjahren nichts von ihrer Relevanz verloren. Die dauerprominente Pandemie hat das Thema etwas an den Rand gedrängt. Isabel Schayani hat es aber kontinuierlich bearbeitet. Sie hat für verschiedene Formate des WDR und der ARD aus dem griechischen Geflüchtetenlager Moria berichtet. Dabei hat sie auch europäische Politik erklärt und eingeordnet, allerdings nicht vorrangig mit dem Instrumentarium einer Institutionen- und Strategieerklärerin, nicht aus Brüssel, Straßburg, Athen, Ankara oder Berlin. Sondern direkt aus Lesbos, aus nächster Nähe zu betroffenen Menschen.

Als Leiterin der Redaktion WDRforyou hat sie mit ihrem Team die Situation in Moria begleitet, abgebildet und eingeordnet, sie sprach Kommentare, wurde in Nachrichtensendungen geschaltet, setzte in Tweets Schlaglichter, sie besuchte Talkshows und produzierte Filme und Reportagen. Dabei übersetzte sie nicht nur etwa aus dem Persischen ins Deutsche, sondern sie übersetzte auch das, was sie in Lesbos sah, in Worte und Bilder, die der Zuschauerschaft das Geschehen begreifbar machten.

 

Begründung der Jury

Isabel Schayanis Berichterstattung aus dem Geflüchtetenlager Moria (und Moria II) ist verständlich, prägnant, sprachlich gewandt, kompetent in der Sache, empathisch und offen für Unerwartetes, das sie spontan einzuordnen weiß. Sie ist aber mehr als die Summe der einzelnen Qualitäten. Sie ragt im Ganzen heraus.

Hervorzuheben ist Schayanis doppelte Interaktionsleistung. Sie spricht zum einen ernsthaft interessiert mit den Menschen, die sie trifft. Sie lässt sie allerdings nicht nur vor der Kamera Statements abgeben und verschwindet wieder. Man merkt an den Reaktionen der Menschen, dass sie diese Frau kennen. Läuft ein Kind ins Bild, interagiert sie mit ihm, ohne je ins Süßliche zu kippen. Und genauso hört sie verärgerten Griechen zu, die mit der Katastrophe vor ihrer Haustür umgehen müssen. Sie betreibt einen wertebasierten und entpolarisierenden Journalismus, der vorbildlich ist für die Fernsehpraxis.

Zugleich – und das ist die zweite Interaktionsebene – geht sie dahin, wo die Zuschauer*innen sind. Bei Facebook, bei Twitter, bei YouTube, im linearen Fernsehen; sie macht Reportagen, ordnet in Nachrichten ein, erklärt in Talks. Schayani bedient verschiedenste Formate und Plattformen je angemessen und mit großer Selbstverständlichkeit. Sie ist dadurch ein Medium im besten Sinn, eine Vermittlerin. Dafür braucht es mehr als ein Lehrbuch. Dafür braucht es, natürlich, ein Team. Dafür braucht es aber auch Erfahrung, Spontaneität und vor allem Fernsehpräsenz und die Fähigkeit, mit Menschen zu sprechen.

Schayani übersetzt nicht nur von einer Sprache in die andere, sondern auch von einer Lebenslage in die andere. Wie sie das tut, macht ihre Berichterstattung einzigartig. Eine Reportage für „WDRforyou“ beginnt etwa mit ihrem Gespräch mit einem Kind, das sie im Off einleitet mit dem Satz „Frage einer Europäerin, die noch nie gehungert hat: Was hast du zum Frühstück gegessen?“ Ein Satz, und das Machtgefälle zwischen Europa und denen, die nicht dazu gehören sollen, ist erfasst. Genau wie die konkreten Auswirkungen auf das Kind, in dessen Situation sich Schayani hineinversetzt, ohne zu behaupten, dass sie je in einer vergleichbaren gewesen wäre.

Noch ein Beispiel: Als sie, nachdem es in Moria gebrannt hat, nach den Zuständen vor Ort gefragt wird, übermittelt sie ihre Eindrücke in einem Schaltgespräch dadurch, dass sie vor einer kurzen, prägnanten Antwort mehrere Sekunden lang nach Worten sucht und so das Gefühl von Sprachlosigkeit auf bestmögliche Art ins Fernsehen übersetzt. Schayani war eine Stimme der Menschen in Moria, die sich ungehört fühlten, und sie war Augen und Ohren des Publikums in Deutschland.

 
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