57. Grimme-Preis 2021

Unorthodox

(Studio Airlift/Real Film Berlin für Netflix)

 

Grimme-Preis an

 

Deborah Feldman (Buch)

Alexa Karolinski (Buch)

Anna Winger (Buch)

Maria Schrader (Regie)

Shira Haas (Darstellung)

 

Erstausstrahlung/-veröffentlichung:
Netflix, Donnerstag, 26.03.2020, 00.00 Uhr

Lauflänge: 4 x 55 Min.

 

Inhalt

Eine Perücke treibt im Wasser des Wannsees – in der Nähe der Villa, in der 1942 der Holocaust organisiert wurde. Esty hat sich soeben dieser Perücke entledigt, in ihrer Mimik lässt sich Erleichterung und ein Ausdruck von Freiheit erkennen. Die Perücke steht für all die Zwänge und Einschränkungen, die die junge Frau in diesem Moment abstreift.

Esty entstammt einer Gemeinschaft chassidischer, ultraorthodoxer Juden aus Williamsburg. Dort müssen Frauen Perücken tragen, nachdem sie in jungem Alter verheiratet wurden und ab dann das Ziel verfolgen sollen, möglichst viele Kinder zu bekommen – um die sechs Millionen im Holocaust ermordeten Juden zu ersetzen, wie Esty eingetrichtert wurde. Doch Esty hat genug von den strengen Regeln der Gemeinschaft, von diesem Leben, das sich für sie wie ein Gefängnis anfühlt, und begibt sich auf ihrer Suche nach einem selbstbestimmten Leben und ihrer eigenen Identität nach Berlin – und damit zum einen an den Ursprung des Traumas ihrer Gemeinschaft, und zum anderen in eine moderne Welt, die sich nicht stärker von der ihr bisher bekannten Parallelwelt unterscheiden könnte. Die Serie erzählt in zwei parallelen Handlungssträngen zum einen Estys Vergangenheit in Williamsburg und zum anderen ihr neues Leben in Berlin, wo sie auf ihre ebenfalls der Gemeinschaft entflohene Mutter trifft und versucht, an einer Musikakademie angenommen zu werden. Doch ihr Ehemann und sein Cousin fliegen ebenfalls nach Berlin, um sie zurückzuholen.

 

Begründung der Jury

Erzählt wird die Geschichte einer jungen Frau, die einer kleinen Minderheit entstammt. Und doch sind die Geschichte und die Botschaft dieser Serie universell: Es geht um die Suche nach der eigenen Stimme, nach einem selbstbestimmten Leben. Wie eine junge Frau aus traditionellen Zwängen ausbricht – dies wurde gewiss schon oft erzählt. Aber noch nie auf diese Weise und selten so genau und einfühlsam wie in dieser Serie, die in jeder Minute ihrer vier Folgen zu überzeugen weiß. Die Serie verschränkt dabei durch eine kluge Montage zwei auf unterschiedlichen Zeitebenen spielende Erzählstränge, die in Williamsburg und in Berlin spielen. Die Darstellung der Lebensweise und der Traditionen der ultraorthodoxen Gemeinschaft in Williamsburg hätte dabei leicht klischeehaft oder gar herablassend wirken können. Stattdessen gelingt der Serie aber eine detailreiche und niemals abwertende Darstellung des jüdischen Brauchtums in all seiner Würde und Schönheit. Dass dies gelingt, liegt insbesondere an den Leistungen von Anna Winger, Alexa Karolinski und Maria Schrader, die bei der losen filmischen Umsetzung des autobiografischen Romans von Deborah Feldman Fingerspitzengefühl bewiesen. Bei aller Genauigkeit und Authentizität ist es ihnen gelungen, eine spannende und unterhaltsame Serie auf höchstem internationalen Niveau zu konzipieren und zu realisieren, deren Handlung einen unglaublichen Sog entwickelt und die Zuschauer*innen mitfiebern lässt: Schafft Esty es, den Zwängen und Einschränkungen ihres alten Lebens zu entkommen und sich ein neues, eigenes Leben aufzubauen – oder schafft sie es nicht?

Neben dem außergewöhnlichen Frauen-Team hinter der Kamera tragen auch die schauspielerischen Leistungen zu dem überaus stimmigen Gesamtbild bei: Wie die Hauptdarstellerin Shira Haas Estys Zerbrechlichkeit, ihre innere Zerrissenheit und ihre Suche nach sich selbst – häufig nur durch feine Veränderungen ihrer Mimik – darstellt, ist große Schauspielkunst und in jeder Sekunde überzeugend. Auch von der Figurenzeichnung war die Jury begeistert: Alle Figuren sind genau ausgearbeitet, nie eindimensional, sondern in ihrer Widersprüchlichkeit fein ausgelotet, absolut glaubwürdig und machen eine Entwicklung durch – und das in nahezu jeder einzelnen Szene. So ist auch Estys Ehemann Yanky im Grunde eine genauso tragische Figur wie Esty selbst. Auch er ist jemand, der durch die Regeln und Traditionen der Gemeinschaft in seine Rolle gedrängt wurde und selbst noch auf der Suche nach seinem Platz zu sein scheint.

Zu loben ist auch der Mut, zugunsten der Glaubwürdigkeit etwa die Hälfte der Serie auf Jiddisch zu drehen und damit dem überwiegenden Anteil des Publikums Untertitel zuzumuten. Doch die Serie ist nicht nur mutig, sondern macht auch Mut: all jenen, die sich in einer ähnlichen Situation wie Esty befinden. Es lohnt sich, um ein selbstbestimmtes Leben zu kämpfen.

 
Zurück