(filmpool fiction für NDR)
Grimme-Preis an
Florian Oeller (Buch)
Stefan Schaller (Regie)
Luise Heyer (Darstellung)
Charly Hübner (Darstellung)
Anneke Kim Sarnau (Darstellung)
Erstausstrahlung/-veröffentlichung:
Das Erste, Sonntag, 14. März 2021, 20.15 Uhr
Lauflänge: 88 Minuten
Inhalt
Am Existenzminimum: Sabine Brenner (Luise Heyer) ist bei einer Zeitarbeitsfirma angestellt und arbeitet in der Kantine einer Rostocker Werft, die kurz vor der Schließung steht. Sie erlebt eine Demütigung nach der anderen: Der Chef weist sie herablassend zurecht. Die Bank zieht ihre EC-Karte ein. Die Lehrerin ihres Sohnes sagt ihr, dass sie von einer Gymnasialempfehlung absehen würde, da Sabine dem Jungen in ihrer Situation sowieso nicht die notwendige Unterstützung zukommen lassen könne. Die alleinerziehende Mutter kramt eine Pistole heraus und denkt in ihrer Hoffnungslosigkeit darüber nach, sich damit zu erschießen. Als sie hört, wie der Nachbar in ihrem Plattenbau wiederholt seine Frau misshandelt, folgt sie ihm bei dessen Verlassen der Wohnung auf die Straße und erschießt ihn dort. In der gleichen Nacht feiert Alexander Bukow (Charly Hübner) an der Seite von Katrin König (Anneke Kim Sarnau) und anderen Kolleg:innen eine Trauerfeier mit Schnaps und Schlagermusik für seinen Vater Veit. Verkatert nimmt das Team am nächsten Tag die Spur von Sabine auf, die nach dem ersten Mord im Rachemodus weitere ihrer Peiniger erschießt. Am Ende tötet Sabine ihren Bankberater, übergießt sich mit Benzin und setzt sich selbst in Brand.
Begründung der Jury
Trauerdrama, Sozialreport, Rachethriller: Unablässig wechselt dieser „Polizeiruf“ zwischen den Genres und für jedes finden die Filmemacher:innen den perfekten Ton. Das dringliche politische Thema der forcierten Verelendung ganzer Gesellschaftsschichten wird hier empathisch, rigoros und kunstvoll auf die Figur der alleinerziehenden Mutter Sabine heruntergebrochen. Der größere wirtschaftliche Zusammenhang, die Globalisierung und Deregulierung innerhalb der Schiffbauindustrie, wird mit wenigen präzisen Strichen gezeichnet – das menschliche Drama, das dadurch erzeugt wird, kann sich dafür umso aufwühlender entfalten.
Florian Oeller hat sein Drehbuch kühl und klug konstruiert, Regisseur Stefan Schaller inszeniert den Rachefeldzug der Gedemütigten als Ambivalenz-Parcours, der das Publikum zwingt, immer wieder seine Gefühle für die Hauptfigur zu überprüfen und zu überdenken. Dürfen wir als Zuschauende mit einer Rachemörderin mitfiebern? Dass wir der Hauptperson konsequent bei ihrem Feldzug folgen und auch in den grausamsten Momenten gebannt auf den Bildschirm schauen, liegt vor allem an der Hauptdarstellerin Luise Heyer, die ihrer Figur die unterschiedlichsten Energielevel abverlangt. Geschlagenes Opfer, verzweifelte Mutter, auftrumpfende Rächerin – diese fortlaufenden Wechsel vollzieht Heyer glaubhaft und in atemberaubendem Tempo. Hier sehen wir einen Menschen, der sich bei jedem Versuch, aus dem eigenen Elend auszubrechen, nur noch tiefer in die ihr von der Klassengesellschaft vorgeschriebene Rolle zurückgedrängt sieht. Aufstiegsversprechen, my ass!
Mit seiner trockenen Analyse und seiner unverstellten Parteinahme passt dieser alle Gepflogenheiten und Grenzen des Fernsehkrimis sprengende Film in das Corona-Jahr 2021. Zahlreiche junge Künstler:innen haben unter dem Stichwort Klassismus und unter dem Eindruck einer sich verstärkenden gesellschaftlichen Spaltung durch die Pandemie die gesellschaftliche Undurchlässigkeit beschrieben und beklagt. Vielleicht kann nur der Rostocker „Polizeiruf“ so durchlässig sein für ein solch schwieriges gesellschaftliches Thema, da mit den von Anneke Kim Sarnau und Charly Hübner verkörperten Kommissar:innen eine Ermittlungseinheit geschaffen wurde, die so zugänglich ist für die Zumutungen der Gegenwart wie keine andere im deutschen TV-Krimi. Und wie Sarnau und Hübner auf der Trauerfeier, Rio Reisers „Halt Dich an Deiner Liebe fest“, singen, ist ein eigenes TV-Highlight für sich.