59. Grimme-Preis 2023

Unrecht und Widerstand - Romani Rose und die Bürgerrechtsbewegung

(strandfilm/Navigator Film für ZDF/3sat)

 

Grimme-Preis an:

Peter Nestler (Buch/Regie)

 

Produktion: Dieter Reifarth

Erstveröffentlichung: 3sat Mediathek, Sonntag, 24. Juli 2022, 22.25 Uhr

Sendelänge: 113 Minuten

 

Inhalt:

Am 2. August 2021 erhält Romani Rose, der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau die Auszeichnung „Licht der Erinnerung“. Er wird damit geehrt für sein jahrzehntelanges Engagement im Kampf um die Erinnerung und die Anerkennung des Porajmos, des Völkermords an den europäischen Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten. Dieser Genozid wurde in Deutschland nicht nur über viele Jahre totgeschwiegen. Vielmehr waren Überlebende und Nachkommen erneut staatlichen Schikanen ausgeliefert, erfuhren auch in den Jahrzehnten nach 1945 Ausgrenzung, wurden Opfer eines tiefgreifenden Rassismus. Auch dagegen richteten sich Romani Rose und seiner Mitstreiter:innen. Ausgehend von der Lebens- und Familiengeschichte Roses schildert der Dokumentarfilm wichtige Etappen dieser Auseinandersetzung, verbindet umfangreiches dokumentarisches Archivmaterial – darunter Aussagen von Opfern und Auszüge aus gesellschaftlichen Debatten – mit zeitgenössischen Interviews mit Romani Rose und anderen Protagonist:innen der Bürgerrechtsbewegung, aber auch mit Historiker:innen, und erzählt auf eindringliche Weise vom Leid der Sinti und Roma vor und nach 1945. Er vermittelt dabei, wie die Gesellschaft, der Staat mit Legislative, Exekutive und Judikative sowie die Kirche in personeller, struktureller und ideologischer Hinsicht über Jahrzehnte hinweg Anteil an einer Fortführung der Diffamierung, Ausgrenzung und Entrechtung hatten.

 

Begründung der Jury:

Die Notwendigkeit, das Leid der Sinti und Roma vor und nach 1945 endlich in umfassender und angemessener Weise zu erzählen, ergibt sich nicht nur aus dem unfassbaren und schrecklichen Geschehen selbst, sondern auch aus dem erstaunlichen und nur schwer zu begreifenden Umstand heraus, dass dies bisher noch nicht geschehen ist. Schon allein damit leistet der Film einen wichtigen und instruktiven Beitrag zur Chronik bundesdeutscher Geschichte, füllt eine nicht zu akzeptierende Leerstelle und trägt zu aktuellen geschichtswissenschaftlichen Debatten bei.

Nicht ganz verwundern mag hingehen, dass es Peter Nestler war oder vielleicht auch sein musste, der einen solchen Film endlich realisiert hat. Nestler, einer der bedeutendsten Dokumentarfilmer Deutschlands und – leider auch immer noch – einer der unbekannteren, galt immer als ein unbequemer Filmemacher mit klarer politischer Haltung, aber auch als einer, der mit genauem, unaufdringlichem und offenem Blick Menschen, Landschaften, Abläufe und Dinge betrachtet.

Schaut man Nestlers Werk von 1962 bis heute an, so scheint Geschichte immer eine der treibenden Kräfte gewesen zu sein, Welt und Wirklichkeit filmisch zu begegnen, darunter auch die Geschichte von Ausgrenzung, Marginalisierung und Verfolgung, Unterdrückung und Ermordung von Minderheiten. So ist es nicht das erste Mal, dass sich Nestler mit dem Themenkomplex befasst. Bereits 1970 realisierte er zusammen mit seiner Frau Zsóka Nestler für das schwedische Fernsehen – der als linkslastig geltende Nestler war aufgrund fehlender Arbeitsmöglichkeiten in der BRD nach Schweden migriert – mit „Zigeuner sein“ einen Film über die Verfolgung der Sinti und Roma im „Dritten Reich“ und die Diskriminierung danach. Einige der aufschlussreichen Gespräche mit Überlebenden, denen Nestler viel Zeit und Raum gibt, ihre Erinnerungen – auch mit ihrer unmittelbaren emotionalen Wirkung – zu erzählen, montiert er auch in seinen neuen Film mit ein. Da sich Zugewandtheit, Haltung und Gesprächsführung Nestlers seit jener Zeit kaum geändert zu haben scheinen, wirken sie weniger wie dokumentarische Archivalien als vielmehr gleichberechtigt neben den Ausführungen von Romani Rose.

Diese Geschichte hätte längst erzählt werden müssen. Ist die Anerkennung des Porajmos als Genozid aus „rassischen“ Gründen durch die unermüdliche Arbeit von Romani Rose und den vielen Mitstreiter:innen mittlerweile erreicht, scheint das Bewusstsein über eine bis in ihre Strukturen hinein rassistische Gesellschaft, wie sie für die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik zu verzeichnen ist, noch immer getrübt. Durch seine Tiefenbohrungen in Geschichte und Gesellschaft hinein schärft Nestler dieses Bewusstsein, ermöglicht es mitunter sogar erst. In Zeiten stärker werdender Xenophobie und wachsendem Antisemitismus und Antiziganismus wichtiger denn je.

 
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