(CORSO Film für ZDF/ZDF – Das kleine Fernsehspiel)
Grimme-Preis an:
Julian Vogel (Buch/Regie)
Produktion: Martin Roelly, Erik Winker, Ümit Uludağ
Erstveröffentlichung: ZDFmediathek, Freitag, 21. Juli 2023
Sendelänge: 3 Folgen, je 67-85 Minuten
Inhalt:
Die Trilogie „Einzeltäter“ besteht aus den Filmen „München“, „Halle“ und „Hanau“. Benannt sind sie nach den Städten, in denen 2016, 2019 und 2020 rechtsextremistisch motivierte Anschläge auf Menschen mit sichtbarem Migrationshintergrund oder einer spezifischen Religion verübt wurden. 21 Menschen starben.
Julian Vogel hat Hinterbliebene begleitet. Sie stehen im Zentrum und kommen ausführlich zu Wort. Es geht um ihren persönlichen Verlust, ihren Schmerz und ihre Trauerarbeit, die in vielen Fällen zusätzlich belastet wird durch eine routinierte, die politischen Motive zunächst übersehende Krisenbewältigung in Verwaltung, Politik und Medien. In allen Filmen spielen auch Unterstützer*innen eine Rolle. In München ist es eine Anwältin, die im Namen der Hinterbliebenen dafür kämpft, dass der Anschlag – ausgeübt am Jahrestag der rechtsterroristischen Taten in Norwegen – nicht weiter als Amoklauf eines labilen Einzeltäters bezeichnet wird. In Halle wird der Vater eines Ermordeten von der Fangemeinschaft seines Fußballvereins gestützt. In Hanau gründet sich eine Initiative, die für Aufklärung eintritt. Zudem besucht Vogel Kundgebungen und Gedenkveranstaltungen und verfolgt die Auseinandersetzung der Hinterbliebenen mit den Behörden um ein angemessenes öffentliches Erinnern.
Begründung der Jury:
„Einzeltäter“ besteht aus drei Filmen, die jeweils für sich rezipierbar sind. Doch das Paket ist mehr als die Summe der einzelnen Teile. Einzeln betrachtet handelt es sich um Filme über Menschen, die mit den Folgen der rechtsextremistischen Taten leben müssen. Sie sind es, für die sich Vogel vornehmlich interessiert: für ihren Schmerz, ihre Verzweiflung, ihre Geschichten. Das ist erinnerungskulturell viel wert. Denn es ist ein Unterschied, ob man von Taten erzählt, bei denen eine bestimmte Zahl von Menschen gestorben ist. Oder ob man Çetin Gültekin, Arbnor Segashi oder Karsten Lissau von ihren Angehörigen erzählen lässt, die in Hanau, München und Halle ermordet worden sind. Julian Vogel gibt ihnen und vielen anderen Hinterbliebenen der Opfer Raum, ihre je eigene Geschichte zu erzählen. Er dokumentiert respektvoll und empathisch ihren Schmerz, ihre Trauer und ihre Wut. Ihre Kämpfe gegen die in Politik, Verwaltung und Medien zeitweise verbreitete Blindheit für die politische Dimension der Morde. Ihre Erinnerungen. Und ihr ausdauerndes Schweigen.
Im Kontext der gesamten Trilogie sieht man jeden einzelnen Film jedoch noch einmal anders. Zusammen zeichnen die drei Filme auch ein Bild einer Gesellschaft, die den Umgang mit politisch motivierten Anschlägen, die eine gemeinsame Trauer- und Erinnerungsarbeit erst lernen muss. Die einen würden die Anschläge lieber als schlimme Einzelfälle verbuchen, als Amok. Die anderen wissen schnell, dass es anders ist.
„Einzeltäter“ ist ein vierstündiges Werk, das viele Fragen aufwirft. Diese etwa: Muss man wirklich selbst diskriminierungserfahren sein, um verstehen zu können, welche Verheerungen rechtsextremistischer Terror anrichtet? Und wer fühlt sich von diesem „Wir“ tatsächlich angesprochen, das der Bundespräsident in einer Rede nach dem Anschlag von Halle adressiert? Julian Vogel stellt solche Fragen nicht explizit. Er arbeitet dokumentarisch, nicht journalistisch. Er hat keine Thesen im Gepäck und wendet keine klassischen Interviewmethoden an. Er arbeitete ergebnisoffen, wie man schon daran erkennt, dass er vor den Anschlägen von Halle und Hanau zu drehen begann. Er konnte diese Trilogie gar nicht von vornherein so geplant haben, wie sie am Ende wurde. Aber er ließ sie zu. Er drehte also nicht das, was er von Anfang an sagen wollte. Sondern er sagt, was das gedrehte Material ihm mitteilte. Und das ist, genau wie die Verknüpfung der drei Filme zu einer Trilogie, sehr überzeugend.
Erinnerung, Gerechtigkeit, Aufklärung, Konsequenzen. Darum geht es vielen der Menschen in diesem Film. Julian Vogel dokumentiert ihr Ringen geduldig und verständnisorientiert. Und das macht „Einzeltäter“ selbst zu einem wichtigen Beitrag zur Erinnerung.