60. Grimme-Preis 2024

Tamara

(Jost Hering Filme für ZDF/ZDF – Das kleine Fernsehspiel)

 

Grimme-Preis an:

Jonas Ludwig Walter (Buch/Regie)

Linda Pöppel (Darstellung)

Lina Wendel (Darstellung)

 

Produktion: Jost Hering

Erstveröffentlichung: ZDFmediathek, Freitag, 8. Dezember 2023

Sendelänge: 88 Minuten

 

Inhalt:

Es ist schon dunkel, als der Bus beim Theater der Freundschaft in der brandenburgischen Provinz hält. Tamara steigt aus, zündet sich eine Zigarette an und zieht ihren Koffer die Dorfstraße hinab, in dieser vertrauten und gleichsam fremden Umgebung. Zum Geburtstag ihrer Mutter kommt sie gerade noch rechtzeitig, blickt distanziert auf die Gemeinschaft von Menschen, zu der sie nicht mehr gehört, nicht mehr gehören will. Später sucht sie Rico auf, einen Jugendfreund, der im Dorf blieb und sich hier eine Existenz aufbaute. In seinem Country-Lokal tanzen sie Line Dance, umgeben von Fototapeten mit weit entfernten Sehnsuchtsorten. Ihr Vater, liebevoll „Eule“ genannt, erwartet sie nachts im Garten und bringt sie zu Bett. Am nächsten Morgen ist sie wieder ganz Kind, stellt direkt die unangenehmen Fragen: Wie geht es weiter? Wo wollt ihr hin? Was passiert mit dem Haus? Antworten erhält sie von ihren Eltern keine, nur Ausflüchte und Maßregelung. Das Grundstück sei bereits verkauft, ein Kredit doch aussichtslos, die Zukunft eben ungewiss. Ein plötzlicher Todesfall konfrontiert Mutter und Tochter mit der Vergangenheit, provoziert die Aushandlung ihrer Folgen auf beide Leben und führt schließlich zur gemeinsamen Neuorientierung.

 

Begründung der Jury:

Bereits während der ersten zwei Szenen von „Tamara“, dem Abschlussfilm von Jonas Ludwig Walter an der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, wird das zentrale Thema geschickt eingeführt sowie seine Motivation und Intention auf visueller wie sprachlicher Ebene deutlich: In einer Nahaufnahme zieht der Mond im Vorspann langsam durchs Bild. Nur indirekt durch das Licht der Sonne sichtbar, ist er ein tragendes, klug gewähltes und wiederkehrendes Motiv. Ähnlich verhält es sich mit Tamara, 1990 geboren, die das Land ihrer Eltern nicht mehr erlebt hat und eine Art Resonanzkörper bildet für deren Erfahrungen in der DDR. Noch konkreter wird es im Radiointerview, das Tamara im Bus beiläufig hört. Da ist die Rede vom immateriellen Erbe, das die Nachwendekinder antreten, inklusive neuer Perspektiven, die es einzunehmen gilt, wenn heute über die innerdeutsche Gesellschaft diskutiert wird. Und dass es ein gemeinsames Verständnis braucht, damit die Biografien der Eltern – und mittlerweile auch die eigenen – nicht nur aus westdeutscher Perzeption erzählt werden.

„Du bist mal kurz zurück. Keine Frage ist beantwortet. Alles wie es war. Jetzt biste erstmal hier. Vielleicht wird’s ja schön.“ Diese Sätze spricht Tamaras Vater lakonisch auf das Tonband seines auditiven Tagebuchs. Sie spiegeln den Zustand des Status Quo, den Tamara bei ihren Eltern vorfindet und der den Kern für die nachfolgenden Konflikte bildet. Der persönliche, deutlich autobiografisch geprägte Ansatz, mit dem Walter, auch verantwortlich für das Drehbuch, den Generationenkonflikt darlegt, ist eine große Stärke dieser sensiblen Erzählung einer Familientragödie mit politischem Hintergrund. In pointiert geführten Dialogen verhandelt „Tamara“, wie sich Grenzen nicht mehr durch Ost-West ziehen, sondern durch innerdeutsche Biografien. Dabei wird die Angst der Elterngeneration ernst genommen, ihre Geschichten vor einer Neudeutung schützen zu wollen. Das Anliegen Walters, die Fragen, die sich Nachwendekinder über ihre Eltern stellen, offen, sensibel und zugleich schonungslos zu verhandeln, tragen insbesondere Linda Pöppel in der Rolle von Tamara und Lina Wendel als ihre Mutter. Deren Konflikt verdeutlicht, dass es – wie so oft – um Austausch geht. Darum, miteinander zu sprechen. Dies gelingt ganz wunderbar über alltagsgegenständliche Rückgriffe, wie z.B. die Bücher in den Regalen, die bei der Auflösung des Hauses zu Gesprächen über persönliche wie politische Haltungen führen.

Mehr als dreißig Jahre nach der Wende ist mit diesem in allen Bereichen stimmig inszenierten Film ein neues Kapitel weit aufgeschlagen für Geschichten über deutsch-deutsche Identitäten unter neuen Vorzeichen. Mit Blick auf die aktuellen politischen Verhältnisse ist dies drängender denn je.

 
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