60. Grimme-Preis 2024

Ukraine – Kriegstagebuch einer Kinderärztin

(DOCDAYS Productions für rbb/ARTE)

 

Grimme-Preis an:

Carl Gierstorfer (Buch/Regie)

Ronald Rist (Montage)

 

Produktion: Antje Boehmert

Erstausstrahlung: ARTE, Dienstag, 7. Februar 2023, 22.50 Uhr

Sendelänge: 60 Minuten

 

Inhalt:

Von Februar bis November 2022 begleitete Carl Gierstorfer die Ärztin Vira, die im Kinderkrankenhaus Ochmadyt in der westukrainische Stadt Lwiw die Anästhesie und Intensivstation leitet. Tagebuchartig berichtet sie von ihrer Arbeit und ihren privaten Sorgen. Zu Beginn folgen wir der entschlossenen, schier unendlich arbeitenden Vira, die um die schwer verletzten Kinder ringt und den Eltern Trost spendet. Am Schicksal von vier jungen Patient*innen, die der Film uns näher vorstellt, wird das Leid der Kinder in diesem Krieg deutlich. Vira bangt, während immer mehr verwundete Kinder eingeliefert werden, um ihre eigenen drei Söhne. Dann erreicht der Krieg mit Raketenangriffen Lwiw. Verzweifelt hofft sie, dass ihr Mann, der als Soldat an der Front kämpft, wohlbehalten zurückkehrt. Wir erleben die Rettung von Patient*innen, die in Deutschland und Schweden medizinisch weiter betreut werden. Mit dem Näherrücken der Front schwinden Viras Kräfte. Der Film bietet einen intimen Einblick in den Kriegsalltag – ein Krieg, der mit Vira, ihren Söhnen und den verwundeten Kindern nicht mehr anonym bleibt. Ein intensives filmisches Tagebuch.

 

Begründung der Jury

„Wir sind nicht normal. Die Sirenen heulen und wir rauchen, als ob kein Krieg wäre. Und immer scheint die Sonne“, sagt Vira lachend in der ersten Szene des Films. Die Kamera nimmt Viras Perspektive sehr unmittelbar ein. Carl Gierstorfer findet eine außergewöhnliche Protagonistin. Dabei funktioniert die filmische Form des gesprochenen Tagebuches ganz herausragend. Vira teilt ihre Gedanken, mal nüchtern beurteilend, mal hoch emotional, unmittelbar mit uns. Während knapp ein Jahr nach dem Überfall auf die Ukraine durch russische Truppen eine kämpferische Ärztin mit viel Elan tagtäglich ihre Arbeit aufnimmt, stellt der Krieg sie fortdauernd vor schwierigere Situationen. Starke Szenen geben dem Film eine große Wucht, wie die Freude über die Stabilisierung der Zwillinge Sophia und Diana, die, noch kein Jahr alt, drei Monate lang künstlich beatmet werden mussten. Oder in der Auseinandersetzung mit dem ältesten Sohn über schlechte Noten. Berührend ist der Monolog über die erste Wut, die sie erfasst, als Wanja, ein russischer Junge mit Splitterwunden am ganzen Körper, eingeliefert wird, und ihre Erkenntnis, dass dieses Kind keine Schuld am Krieg trägt. Ihr jugendlicher Patient Andrej, der zwei zertrümmerte Beine hat, seine Mutter im Krieg verlor und Gitarre spielt, veröffentlicht später ein Lied für alle Mütter: „Mama“. Ein emotionaler Moment für Vira, den die Kamera behutsam einfängt. Auf die Frage, wie sie diesen Alltag immer wieder annehmen, dies alles aushalten kann, antwortet sie: „Mit viel Kaffee und viel Zigaretten.“

Die Jury lobt die herausragende Bildgestaltung des Filmemachers – eine integrierte Kamera, die Nähe und Distanz auf allen Eben des Gezeigten ausgewogen hält. Dies macht möglich, dass Vira die bisher wenig gezeigte Perspektive der Kinder im Ukrainekrieg einnehmen kann. Eine Generation, die im Krieg aufwächst und die Traumata und Verletzungen an Körper und Seele mitnehmen wird in eine derzeit in weiter Ferne liegende Zukunft ihres Heimatlandes. Insbesondere trägt die Montage der Bilder von Roland Rist aus dem Krankenhaus, dem Stadtgeschehen, von Viras Handy und der Familie Viras zur sensiblen und kraftvollen Erzählung bei. Immer wieder wechseln berührende Augenblicke ab mit solchen, die dem Zuschauer die Chance geben, das Gesehene zu verarbeiten. Ohne Kommentar und ohne Musik entsteht so eine konzentrierte, dichte Erzählung, die weit über die persönlichen Reflexionen hinausweist und den Zuschauer*innen die Möglichkeit für eine eigene Perspektive belässt.

„Das Gefühl von Glück und Lebensfreude ist irgendwohin verschwunden … Ich fühle das Glück nicht mehr“, lautet ein letzter Tagebucheintrag Viras. Den Gedanken zur Zukunft ihrer Familie folgt ein klares Statement. Eine Zukunft wünscht sie sich nur in einer unabhängigen Ukraine.

 
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