Das dokumentarische Arbeiten hat sich stark verändert in den vergangenen Jahren, aber eine Konstante gab es: Fritz Wolf hat all diese Entwicklungen kommentiert und analysiert, manchmal in gewisser Weise auch als teilnehmender Beobachter. So intensiv und systematisch wie er hat kein anderer Journalist hier zu Lande sich mit dem Dokumentarfilm und anderen dokumentarischen Formaten befasst – als Kritiker unter anderem für epd medien, als Autor verschiedener Studien und nicht zuletzt in den Gremien des Grimme-Preises.
Was den Dokumentarfilm angeht, war Fritz Wolf aber noch mehr als der Experte, der mehr gesehen hat als andere, er hat sich auch immer wieder exponiert engagiert für das Genre. Alle Filmemacher*innen, die in diesem Bereich Rang und Namen haben, kennen seinen Namen, und fast alle von ihnen kannte er persönlich. Fritz Wolf war ein Netzwerker avant la lettre, aber diese Nähe beeinträchtigte nie sein Urteilsvermögen als Kritiker und Juror.
Über den Grimme-Preis hat Fritz mehr als ein Vierteljahrhundert mitentschieden, fast immer in der Kategorie Information & Kultur, meistens in der Jury. In den vergangenen drei Jahren wirkte er schließlich in der Nominierungskommission Information & Kultur mit, die dreimal pro Jahr für eine Woche zusammen kommt, um mehrere hundert eingereichte Produktionen zu sichten. Er war auch von Beginn an Mitglied der Vorauswahlgruppe für die „Besondere Journalistische Leistung“, die beim Grimme-Preis seit 2016 ausgezeichnet wird.
Im Bereich der dokumentarische Formate hatte Fritz noch einmal ein besonderes Augenmerk auf Filme zu zeitgeschichtlichen Themen – und in diesem Subgenre wiederum waren Filme über die NS-Zeit für ihn noch einmal ein besonderes Spezialgebiet. Wenn wir in der Nominierungskommission einen Film gesehen hatten, der für Fritz herausragte, weil es den Macher*innen zum Beispiel gelungen war, Bilder wirken zu lassen, sie vielleicht sogar zum Sprechen zu bringen, anstatt sie bloß als Begleittapete für Textinhalte zu nutzen – dann setzte er zu zärtlichen Brandreden an, wobei seine Argumentationen auch davon profitierten, dass er manche der langen Filme schon vor der Sichtung in der Kommission mehrmals gesehen hatte.
Wenn es zu weniger guten Filmen etwas zu sagen gab, hakte er das Thema gern mit einem prägnanten Kurzsatz ab. Manchmal reichte auch bloß ein Wort. „Haufendramaturgie“ zum Beispiel. Aus Fritz’ Munde habe ich diesen Begriff zum ersten Mal gehört, vermutlich hat er ihn erfunden. Die Formulierung bezieht sich auf TV-Dokumentationen, in der sehr viele verschiedene Einzelaspekte eines Themas angehäuft werden, ohne dass sich die Filmemacher*innen fürchterlich viele Gedanken über Struktur und Dramaturgie gemacht haben.
Für seine Expertise im Bereich dokumentarisches Fernsehen stehen Studien wie „Alles Doku – oder was?“ (2003) und „Trends und Perspektiven für die dokumentarische Form im Fernsehen“ (2005). Der Titel „Alles Doku – oder was?“ ist, obwohl ja nun schon fast zwei Jahrzehnte alt, unvermindert aktuell - zum Beispiel, weil, was Fritz natürlich sehr ärgerte, immer noch viele Journalist*innen Dokumentarfilme und TV-Dokumentationen in einen Topf werfen.
Zuletzt erschien 2019 im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Dokumentarfilm (AG Dok) „Deutschland - Doku-Land“. Eine Studie, die deutlich machte, in welchem Ausmaß das öffentlich-rechtliche Fernsehen den langen Dokumentarfilm vernachlässigt, und was auf dem sehr weiten Feld der TV-Dokumentationen im Argen liegt. „Nur etwa sieben Prozent der dokumentarischen Arbeiten behandeln gesellschaftspolitisch relevante Themen, und gerade einmal drei Prozent beschäftigen sich mit Wissenschaft und Technik“, kritisierte er damals.
Ein Faible hatte Fritz auch für Kulturfernsehen, und in Diskussionen darüber merkte man, dass er, den die meisten von uns aufgrund seiner medienjournalistischen Arbeit kannten, noch andere Spezialgebiete hatte. In den 1980er Jahren war er Kulturredakteur bei einem Vorgängerblatt der Wochenzeitung Freitag und Anfang dieses Jahrtausends Literaturredakteur bei einer längst eingestellten Wochenendbeilage des Handelsblatts. Fritz bedauerte es sehr, dass es auf dem Feld der Kulturdokumentationen zu viel schablonenhafte Filme gibt, und er ärgerte sich, wenn wir in der Nominierungskommission Filme über Künstlerinnen oder Künstler oder ein kulturelles Phänomen gesehen hatten, denen man anmerkte, dass die Autor*innen kein allzu großes Interesse an ihrem Gegenstand haben. Eine Studie zum Thema Kulturfernsehen für die Otto-Brenner-Stiftung hat er nicht mehr vollenden können, das werden nun andere machen.
Wenn wir über Fritz und Kultur sprechen, müssen wir auch über Jazz sprechen. Ich erinnere mich an eine Telefonkonferenz der Vorauswahlgruppe für die „Besondere Journalistische Leistung“, in die er sich einschaltete, als bei ihm gerade ein Bebop-Stück lief, vermutlich eines von Charlie Parker. Die Telefonkonferenz lief schon ein paar Momente, ehe jemandem auffiel, dass die Musik zwar nicht sehr laut war, sie die Verständigung untereinander aber doch ein bisschen beeinträchtigte. Dass Fritz die Musik zunächst laufen ließ, hatte nichts mit Unhöflichkeit zu tun. Musik war für ihn wahrscheinlich ein derart selbstverständlicher Teil des Alltags, dass er gar nicht auf die Idee gekommen wäre, dass sie an dieser Stelle leicht deplatziert war. Auch über Musik jenseits des Jazz geriet er oft ins Schwärmen, erzählte von der ausgelassenen Atmosphäre bei einem Rolling-Stones-Konzert oder von Opernhäusern, die man unbedingt mal besuchen sollte.
Fritz, wir werden Deine Streitlust, Deine Leidenschaft, Dein Wissen und nicht zuletzt Deinen Witz vermissen!
René Martens (freier Journalist und Mitglied der Grimme-Preis-Gremien)